Die Selbstheilungskräfte des Gehörs reaktivieren

Geschrieben von Sascha Karberg

Gentherapien könnten bald Gehörschäden reparieren. Doch am wirksamsten wäre es, Lärm zu vermeiden – vor allem den aus Kopfhörern.

Eine Beeinträchtigung des Gehörs ist die häufigste Sinnesstörung beim Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO betrachtet den Gehörverlust sogar als Pandemie, als weltweites Problem, das auch eine ökonomische Dimension hat: Allein in den USA werden jährlich 50 Milliarden US-Dollar ausgegeben, um Gehörprobleme zu beseitigen. In Europa sind derzeit etwa 71 Millionen Menschen von Gehörschäden betroffen. Fast die Hälfte davon ist zwar älter 75 Jahre. Allerdings läuft weltweit etwa eine Milliarde Menschen Gefahr, frühzeitig an Gehörschäden zu erkranken. „Das hat zum Teil zu tun mit Kopfhörern“, sagte der Neurowissenschaftler und Gehör-Experte Ulrich Müller von der Johns Hopkins University vergangene Woche bei einem Vortrag im „Flagship Store“ des Kopfhörer-Produzenten Sennheiser am Berliner Tauentzien im Rahmen einer neuen Vorlesungsreihe „Mittelstand trifft Wissenschaft“, organisiert von der Einstein-Stiftung und dem Bundesverband Mittelständische Wirtschaft (BMWV).

Ein Gen, das an der Hälfte aller erblich bedingten Gehörerkrankungen beteiligt ist

Lärm ist nicht der einzige Grund für Gehörschäden. Auch verschleppte Mittelohrentzündungen, Viren und vor allem Erbkrankheiten können zu Hörverlust führen. „Die Untersuchung solcher Erbkrankheiten hilft uns zu verstehen, wie Gehörschäden entstehen“, sagte Müller. Etwa, dass das Gen „Connexin 26“ im Innenohr eine wichtige Rolle spielt bei der Umwandlung von Schall in einen Nervenimpuls. Es ist daher „das am häufigsten mit einer Krankheit verbundene“ Gen der Menschheit: „50 Prozent aller erblich bedingten Fälle von Gehörschäden gehen zurück auf eine Veränderung in diesem einen Gen.“

Beim Hören werden die Luftschwingungen des Schalls über das Trommelfell auf die Flüssigkeit in der Hörschnecke des Innenohrs übertragen, in der sich die Sinneszellen für die Wahrnehmung der Töne befinden. „Wenn man die Hörschnecke aufwickelt, sieht sie aus wie ein Klavier – die Sinneszellen für die Wahrnehmung der hohen Töne liegen an dem einen, für niedrige am anderen Ende.“ Je nach Tonhöhe drückt die Flüssigkeit im Innenohr auf die „Tasten“ des Hörorgans, die sogenannten Haarzellen. Sie setzen die mechanischen Signale des Schalls in elektrische Signale um, die an das Gehirn weitergeleitet werden.

15000 Haarsinneszellen pro Ohr – das muss fürs ganze Leben reichen

Dafür müssen Haarzellen aber intakt sein. Und pro Ohr wird ein Mensch mit nur etwa 15.000 dieser sensiblen Zellen geboren. „Sterben sie ab, sind sie für immer verloren, Menschen können sie nicht regenerieren“, sagt Müller. Und Lärm setzt den Zellen so zu, dass 10 Prozent aller Hörschäden bei Erwachsenen darauf zurückzuführen sind. „Schon der Ton, den man am Tag nach einem Rockkonzert im Ohr hat, ist ein Zeichen, dass die Verbindungen von Haarzellen und Nervenzellen gestört sind“, sagte Müller.

Inzwischen führt das Wissen über den Hörvorgang und die beteiligten Zellen und Gene zu neuen Therapieansätzen – etwa in der regenerativen Medizin. Hier ist es bereits möglich, Haarsinneszellen im Labor und auch im Tierversuch zu züchten. Doch diese Prozesse im menschlichen Ohr nachzuahmen sei „im Moment noch Utopie“, sagte Müller. Firmen wie «Frequency Therapeutics“ allerdings versuchen bereits, die Haarzell-Regeneration mit Medikamenten anzuregen.

Müller hält Gentherapien für erfolgversprechender: Die Idee sei, in defekte, aber noch lebendige Haarzellen Gene einzuschleusen, die einen Reparatureffekt haben. In vorklinischen Studien klappe das schon sehr gut. Klinische Studien seien in Vorbereitung.


 

Dr. A. Kupferberg, Wissenschaftliche Leitung

Fazit Dr. Kupferberg: Obwohl die Gentechnik im Allgemeinen sehr kontrovers diskutiert wird, könnte sie für die Behandlung von erblich bedingter Hörminderung der Schlüssel zum Erfolg sein. Das hat eine neue Studie, die in Nature Biotechnology veröffentlicht wurden, verkündet. Das Ergebnis grenzt an eine Sensation: Durch eine Gentherapie konnten Mäuse mit angeborener Taubheit wieder hören. Eine wichtige Frage ist, ob die Methode sich auch auf den Menschen übertragen lässt. Am University College London ist es Zellbiologen erstmals gelungen, einen intaktes Gen in menschliches Innenohrgewebe zu transportieren. Das lässt die Hoffnung aufkeimen, dass Gentransfer auch beim Menschen funktionieren könnte und eine Möglichkeit darstellen würde, erblich bedingte Hörschäden zu behandeln.