Wer hören will, muss fühlen

Von Julia Spinola

Die Gehirne von Musikern sehen anders aus als die von Laien. Sie verfügen über mehr graue Substanz. Macht Musik schlau? Auf jeden Fall steigert sie die geistige Beweglichkeit und wirkt sich auch auf das Sprachvermögen aus. Warum es sich immer lohnt, Klavier zu üben.

Kein anderes Sinnesorgan benutzt so wenig Sinneszellen wie das Ohr. Während im Auge etwa hundert Millionen Lichtrezeptoren sitzen, liegt die Anzahl der inneren Haarzellen im Innenohr nur bei etwa 3500. Und doch kann das Hören von Musik, kanadische Forscher haben das nachgewiesen, auf eine Weise die Ausschüttung von Endorphinen – von körpereigenen Glücksboten – stimulieren, wie es sonst nur Sex oder Drogen tun. Musikalische Aktivitäten zählen jedoch nicht nur zu den beglückendsten, sondern auch zu den komplexesten Leistungen, die wir vollbringen können. Allein um die beim Hören von Musik entstehenden Eindrücke zu verarbeiten, benötigen wir etwa hundert Milliarden Nervenzellen.

Musik zu machen beansprucht ein kompliziertes Zusammenspiel sehr verschiedener Fähigkeiten. Der Gehörsinn, eine hochentwickelte Feinmotorik, eine sensible Körperwahrnehmung, das sichere Erfassen einer sich sequentiell entfaltenden Gesamtgestalt und die Verarbeitung von Emotionen sind gleichzeitig gefordert. So erstaunt es kaum, dass Wissenschaftler auf ihrer Suche nach der für die Verarbeitung von Musik zuständigen Hirnregion entdeckten, dass ein spezielles „Musikzentrum“ überhaupt nicht existiert. Moderne bildgebende Verfahren wie die funktionelle Kernspintomographie zeigen vielmehr, dass Musik die unterschiedlichsten Hirnregionen gleichzeitig aktiviert: Areale, die für die bloße Tonwahrnehmung zuständig sind, ebenso wie Bereiche, die die Motorik steuern oder die räumlich visuelle Wahrnehmung. Neueste Forschungen haben zudem gezeigt, dass an der Verarbeitung von Musik auch das sogenannte Broca-Areal beteiligt ist, eines der beiden Sprachzentren. Ja, es scheint beinahe, als wäre das gesamte Gehirn involviert, wenn wir uns mit Musik beschäftigen.

Musik als stärkster Reiz für neuronale Umstrukturierung

Entscheidender noch ist die Feststellung, dass Musik nicht in jedem Kopf auf die gleiche Weise repräsentiert wird: Wenn sich ein musikalisch ungeschulter Laie ein spätes Beethoven-Quartett anhört, werden dabei andere und weniger Bereiche in seinem Gehirn aktiv, als es bei einem professionellem Musiker der Fall ist. Die Unterschiede prägen sich sogar strukturell aus: Forscher der Universität Jena haben in Zusammenarbeit mit der Harvard Medical School in Boston herausgefunden, dass sich die Gehirne von Berufsmusikern anatomisch auffällig von jenen der Nichtmusiker unterscheiden. Bereiche, die für das Hören, das räumliche Sehen und das Umsetzen von Bewegung zuständig sind, sind bei Musikern deutlich vergrößert. Die dreidimensionalen Hirnlandschaftsaufnahmen der Magnetresonanztomographen zeigen außerdem, dass der Balken zwischen rechter und linker Gehirnhälfte, das sogenannte Corpus callosum, kräftiger ausgebildet ist. Schließlich verfügen Musikerhirne auch über mehr graue Substanz. Und der Heidelberger Neurowissenschaftler Peter Schneider entdeckte bei Berufsmusikern sogar instrumentenspezifische Unterschiede in einer bestimmten Hörregion der Großhirnrinde, der so genannten Heschlschen Querwindung. Bis zu 130 Prozent größer sei der Hörkortex bei Musikern und die Nervenzellen doppelt so aktiv wie bei Laien, sagt er. Mit seiner Beobachtung, es handle sich um möglicherweise angeborene, vermutlich nicht veränderbare Strukturen, steht Schneider allerdings alleine da. Denn gerade im Bereich der Musik ist die hohe Plastizität des Gehirns immer wieder erforscht worden.

Eckhard Altenmüller, der Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin in Hannover, geht sogar so weit, zu sagen, Musik sei der stärkste Reiz für neuronale Umstrukturierung, den wir kennen. Gemeinsam mit Marc Bangert hat er gezeigt, dass es bei Laien bereits nach einer ersten, zwanzig Minuten dauernden Übungssitzung am Klavier zu einer Kopplung zwischen den neuronalen Repräsentanzen des Hörens und der Bewegung kommt. Nach fünfwöchigem Training bildet sich eine spezielle Hirnregion aus, die vermutlich die Ton- und Tasteigenschaften des Klaviers repräsentiert. Beim geübten Musiker schließlich erscheinen die gehörten Töne und die Bewegungen der Finger als zwei Facetten ein und derselben neuronalen Repräsentation. Die Verbindung zwischen den Hör- und den Bewegungszentren nutzt der amerikanische Musiktherapeut Michael Thaut von der Staatsuniversität Colorado in Fort Collin, um Schlaganfall-Patienten, Parkinson- und Huntingtonkranken mit Hilfe von Musik das Gehen neu beizubringen. Der Neurologe und Bestsellerautor Oliver Sacks erzählt in seinem neuesten, bislang nur auf Englisch erschienenem Buch „Musicophilia“ auch von musiktherapeutischen Erfolgen in Fällen von Demenzerkrankungen, Amnesie und Aphasie.

Macht Musik schlau?

Die Frage danach, ob Musik schlau mache, beantworten Wissenschaftler, seit der sogenannte „Mozart-Effekt“ 1993 Furore machte, jedoch nicht mehr ganz so vollmundig wie noch vor einigen Jahren. Nachgewiesen worden war damals, dass das Hören von anregender Musik eine verbesserte Leistung in einem Test für räumliche Vorstellung erzeugt. Allerdings stellte sich bald heraus, dass der „Mozart-Effekt“ sich wohl nach jedem als angenehm empfundenen Reiz einstellt.

Altenmüller wies 2002 jedoch darauf hin, dass schon das Hören von Musik als musikalisches Lernen bezeichnet werden kann, da es die auditive Mustererkennung und die Gedächtnisbildung fördere. Chinesische Forscher zeigten, dass sowohl erwachsene Musiker als auch musizierende Kinder über ein besseres Wortgedächtnis verfügen als Nichtmusiker. Eine Steigerung der allgemeinen Intelligenz wies 2004 der Kanadier Glenn Schellenberg bei Kindern nach, die Klavier- oder Gesangsunterricht nahmen, im Unterschied zu Kindern mit Schauspielunterricht. Dass eine so komplexe Fähigkeit wie die Syntaxverarbeitung durch musikalische Schulung verbessert werden kann, haben 2005 Stefan Koelsch und Sebastian Jentschke vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig herausgefunden. Sie testeten die Hirnreaktionen auf syntaktische Fehler in sprachlichen und in musikalischen Sequenzen. Dabei zeigte sich, dass musikalisches Training nicht nur zu einer Steigerung im Bereich der musikalischen Syntaxverarbeitung beitrug, sondern sich gleichermaßen auf die Sprachverarbeitung auswirkte. Koelsch entdeckte außerdem, dass der Mensch bis ins Erwachsenenalter höchst empfindlich auf Musik reagiert – und zwar selbst dann, wenn er es gar nicht merkt. Wie das EEG zeigte, reagierten Versuchspersonen, die sich selber als unmusikalisch bezeichneten, auf „Fehler“ in Akkordfolgen binnen weniger Millisekunden mit hoher Präzision.

Reaktionsschnell und beweglich

Dass sich Wissenschaftler heute trotz dieser Ergebnisse mit allgemeinen Aussagen über die erfreulichen Transferwirkungen eher zurückhalten, hängt auch mit ihren methodischen Problemen zusammen, diese verlässlich zu messen. Musikalisches Training verbessert die Fähigkeit, reaktionsschnell und sicher komplexe Gestalten zu erfassen, es steigert die Beweglichkeit, wie Altenmüller sagt, die Flüssigkeit des Denkens, das heißt: die Fähigkeit sich rasch von einem Gedanken auf den nächsten einzustellen, und es öffnet Türen in jenem großen, noch weitgehend unerforschten Bereich, der zurzeit unter dem Schlagwort der „emotionalen Kompetenz“ subsumiert wird.

 

Quelle: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/f-a-z-serie-gehirntraining-wer-hoeren-will-muss-fuehlen-1514013.html