Viele Betroffene, Ärzte und Akustiker stellen sich die Frage, was noch getan werden kann, um Hörgeräte effektiv einzusetzen und damit deren Akzeptanz zu verbessern. Die Gehörtherapie wurde bereits vor mehreren Jahren vorgeschlagen, um die Hörgeräteversorgung zu unterstützen. Gehörtraining verbessert nicht nur das Sprachverstehen in Lärm, sondern auch kognitive Fähigkeiten werden erfolgreich trainiert (Hesse et al., 2014; Ptok et al., 2012).
Wissenschaftliche Leitung und Redaktion: Dr. Alexandra Kupferberg
Als Neurowissenschaftlerin und Leiterin des «KOJ hearing research center» ist es ihre Aufgabe und Passion, die zentrale Verarbeitung des Gehirns und die Auswirkung von Hörminderung, respektive den therapeutischen Nutzen von Gehörtraining wissenschaftlich zu untersuchen. Dabei stehen ihr in ihrem weiten Netzwerk geschätzte Kollegen der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Professoren der Neurowissenschaften beratend zur Seite. Sie alle haben dasselbe Ziel: Die Lebensqualität der Betroffenen zu steigern.
Schon leichte Schwerhörigkeit führt zu Veränderungen im Gehirn
Wenn das Hören schlechter wird, erreichen immer weniger Hörsignale die höheren Anteile der Hörbahn in Mittelhirn (auditorische Thalamuskerne) und Grosshirnrinde (primäre Hörrinde und die sekundäre Assoziationsrinde) (Peelle et al., 2011). Ist der Zeitraum zwischen einer deutlichen Beeinträchtigung und dem Einsatz von Hörgeräten lang, kann es zu Veränderungen der Gehirnbereiche kommen, die für das Hören verantwortlich sind.
Wissenschaftler haben Studien mit Personen durchgeführt, die ein sogenanntes Cochlea-Implantat tragen. Träger eines solchen Implantats können auf normalem Weg, also über die Ohren, nicht mehr hören. Bei diesen Personen gibt es klare Hinweise auf eine sogenannte crossmodale kortikale Reorganisation im auditorischen und visuellen System (Chen et al., 2016; Sandmann et al., 2012; Stropahl et al., 2015; Stropahl and Debener, 2017). Was heisst das? Die für das Hören wichtigen Netzwerke im Gehirn „verlernen“ das Hören und „erwerben“ neue Fähigkeiten – sie werden zum Beispiel beim Sehen genutzt. So können Menschen, die ihr Gehör vollständig oder fast vollständig verloren haben, besser Lippen lesen und Gesichter erkennen. Dieses Phänomen kann bereits bei leichtem Hörverlust auftreten (Campbell and Sharma, 2014). Obwohl sich nur etwa 30 Prozent aller Laute und Wörter an den Bewegungen der Lippen erkennen lassen, reicht das oft schon aus, um den Sinn eines Satzes zu verstehen, wenn der Kontext bekannt ist.
Gehörlose nutzen ihre Sehfähigkeit viel effizienter als Menschen mit normalem Gehör, weil einige Bereiche des Hörzentrums vom Sehzentrum übernommen werden (Stropahl and Debener, 2017). Wenn man also einem tauben Erwachsenen eine Aufgabe gibt, die Lippenlesen erfordert, werden bei ihm auch Bereiche des Hörsystems aktiviert. Bei Normalhörenden kommt es dagegen zur Aktivierung im Broca-Areal, einer Gehirnregion, welche normalerweise für das Sprechen zuständig ist (Rouger et al., 2012). Darüber hinaus aktiviert das Lippenlesen bei Gehörlosen einen Gehirnbereich, der normalerweise bei der Verarbeitung menschlicher Stimmreize aktiv ist (der temporale Cortex). Werden durch eine Hörgeräte- oder Cochlea-Implantat-Versorgung wieder akustische Informationen gehört, kehrt sich der Prozess um (Rouger et al., 2012). Das Broca-Areal wird also wieder zunehmend fürs Lippenlesen verwendet und der temporale Cortex zum Hören – so wie es bei Normalhörenden der Fall ist.
Bei chronischem Hörverlust lassen sich aber noch weitere Veränderungen im Gehirn nachweisen. In MRT-Befunden war bei Teilnehmern mit ausgeprägter Altersschwerhörigkeit beispielsweise ein deutlicher Volumenverlust in Hirnregionen festzustellen, die fürs Hören genutzt werden (Eckert et al., 2012; Lin et al., 2014; Peelle et al., 2011). Dies ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass aus dem Innenohr weniger „akustische“ Signale das Gehirn erreichen. Diese „auditorische Deprivation“ kann also zu kaskadenartigen Einflüssen in der gesamten Hierarchie der an der Sprachverarbeitung beteiligten Regionen führen (Peelle et al., 2010). Auch die Aktivierung bestimmter Hirnregionen beim Hören kann bei Hörminderung verändert sein. Unter Verwendung der funktionellen MRT wurde die Hirnaktivität von Teilnehmern untersucht, die Sätze hörten, die unterschiedliche grammatische Schwierigkeitsgrade hatten (Peelle et al., 2011). Im Vergleich zu normalhörenden Teilnehmern reagierten die Teilnehmer mit schlechterem Gehör auf komplexere Sätze nicht mit einer entsprechenden Hirnaktivität.
Leider nimmt man die Hörprobleme oft erst dann wahr, wenn der Hörverlust weit fortgeschritten ist und man Mühe hat, bei Nebengeräuschen und in grossen Gesprächsrunden die anderen gut zu verstehen. Wichtig ist deshalb, seine Ohren frühzeitig und detailliert prüfen zu lassen. Je früher wir einen Hörverlust erkennen, desto einfacher können Sie etwas dagegen unternehmen.
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Quelle: http://koj.dev10.econsor-programming.de/?na=v&nk=18-6c1c0fb0b3&id=27