Wo nimmt die Depression ihren Ursprung? Dr. Alexandra Kupferberg und Prof. Gregor Hasler haben nachgeforscht

Symptome einer Depression

Depressive Störungen gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere und Krankheitslast am meisten unterschätzten psychischen Erkrankungen. Sie zeigen überwiegend einen wiederkehrenden oder chronischen Verlauf, liegen oft gleichzeitig mit anderen Krankheiten vor und betreffen gemäß Forschungsstand rund 8% der Erwachsenen im Alter von 18 bis 79 Jahren, wobei Frauen mit 10,2% eine signifikant höhere Prävalenz als Männer mit 6,1% aufweisen. Depressionen führen zu einer großen Beeinträchtigung für die Betroffenen in ihrem sozialen Umfeld (43,4% der Patienten) und bedingen erhebliche Behinderungen am Arbeitsplatz (28,1% der Patienten). Die Belastung der Beziehungen zu Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten führt dazu, dass depressive Menschen ein dünneres soziales Netz haben, ihre sozialen Rollen nicht mehr ausfüllen können und deswegen eine Neigung zu Rückzug, Vereinsamung und Isolation haben. Einerseits könnten die Beeinträchtigungen depressiver Patienten durch die internen Faktoren wie die gedrückte Gefühlslage, pessimistische Gedanken, Selbstvorwürfe, Scham und Schuldgefühle bedingt sein. Anderseits könnten sie aus den Störungen des Sozialverhaltens resultieren. Dazu gehören Bindungsunsicherheit, soziale Anhedonie, gestörtes Emotionserkennen, Empathiemangel, reduzierte Kooperationsbereitschaft, erhöhte Tendenz zur altruistischen Bestrafung, ausgeprägte Angst vor Ablehnung und erhöhte Wettbewerbsvermeidung. Die durch solche Verhaltensweisen verursachten negativen Reaktionen bzw. die Ablehnung durch Freunde oder Angehörige können zu einer weiteren Verstärkung der depressiven Symptome führen.

Rangtheorie: Depression als Schutz vor Verletzungen und Tod bei den Tieren

Das soziale Modell zur evolutionären Entstehung der Depression von Price (1994) geht davon aus, dass Depressionen als einstmals adaptive soziale Reaktion und Anpassung bei sozialen Konflikten entstehen. Diese Theorie basiert auf der Annahme, dass ein depressiver Gemütszustand unseren Vorfahren dazu verhalf, einen Statusverlust innerhalb ihrer Gruppe seelisch und körperlich zu überwinden. Die depressive Stimmung hinderte sie daran, bei wenig Aussicht auf Erfolg sich Ziele zu setzten, denen sie gegenwärtig nicht gewachsen waren. Ein Umschalten auf „unterwürfige Verhaltensweisen“ hat in zwischenmenschlichen Konkurrenz-Situationen dem Stärkeren gezeigt, dass der Interaktionspartner keine Gefahr mehr darstellt und hemmte bei Konkurrenten aggressive Impulse. Für die Interpretation des depressiven Verhaltens als Form der „Unterordnung“ sprechen nicht zuletzt Tierversuche, in denen Antidepressiva unterwürfiges Verhalten verringerten.

Bei den Tieren wurde die Depressionstheorie basierend auf der Rangtheorie beschrieben. Gemäß dieser Theorie hat Depression eine adaptive Funktion, indem sie die Akzeptanz des Verlusts und der untergeordneten Rolle erleichtert. Im Falle einer Niederlage und der erzwungenen Unterordnung kommt bei dem Verlierer ein interner hemmender Prozess in Gang, der dazu führt, dass der Einzelne aufhört zu wetteifern und seinen Anspruch reduziert. Dieser hemmende Prozess ist unwillkürlich und führt zu Energieverlust, depressiver Stimmung, Schlafstörungen, schlechtem Appetit, verlangsamten Bewegungen und Vertrauensverlust, die typische Merkmale einer Depression sind. Der selektive Vorteil von depressiver Verstimmung, also einer Fähigkeit zur Berücksichtigung und Akzeptanz von Rangunterschieden in sozialen Gruppen besteht darin, dass sie bei dem Stärkeren langfristig die Aggressivität reduziert und den Vorrang bei der Gewährung von Zugangsrechten zu lebenswichtigen Ressourcen wie Territorium, Nahrung und potenziellen Gefährten einräumt. Das Ziel der Verliererstrategie ist also die Schadensbegrenzung, das der Gewinnstrategie die langfristige Statuserhaltung. Im Tierreich dient die depressive Anpassung dazu, den Verlierer im Falle eines weiteren Konflikts mit dem Gewinner vor weiteren Verletzungen zu schützen und die Stabilität der Gruppe durch Aufrechterhaltung der sozialen Homöostase zu erhalten. Der evolutionäre Vorteil des Gruppenlebens ist der Schutz vor Raubtieren. Für den Homo sapiens bot er auch Schutz vor anderen Hominidengruppen. Das Leben in einer Gruppe wurde ausschlaggebend für die Sicherheit, für den Zugang zu Ressourcen, für die kooperative Jagd auf Großwild und für den Reproduktionserfolg.

Verhaltensstudie zur Vermeidung des Wettbewerbs bei Depression

Mit Hilfe eines auf der Spieltheorie basierten Experiments, bei dem eine Entscheidung für oder gegen Kooperation bzw. Wettbewerb bei einer Papierfaltaufgabe getroffen werden musste, haben Prof. Gregor Hasler und Dr. Alexandra Kupferberg von der UPD Bern das Wettbewerbsverhalten von depressiven Frauen untersucht. Die Wettbewerbsaufgabe der Probanden bestand darin, innerhalb von fünf Minuten möglichst viele A4 Blätter zusammenzufalten und in C6-Couverts zu verstauen. Diese Aufgabe wurde speziell so gewählt, dass weder Gesunde noch Depressive einen Vorteil in den Fähigkeiten oder in Erfahrungen hatten. Die Studie hat gezeigt, dass das Wettbewerbsverhalten von depressiven Patientinnen hoch-signifikant von jenem der gesunden Kontrollprobanden abwich. Im Gegensatz zu 66 % der gesunden Kontrollpersonen, die sich dazu entschieden, mit einem anderen Gegenspieler in den Wettbewerb zu treten, haben sich nur 30 % der Personen mit Depression für Wettbewerb entschieden. Die meisten Betroffenen bevorzugten es, mit einer unbekannten Person zu kooperieren. Es scheint also, dass bei einer unbekannten Gegenspielerin depressive Frauen die Kooperation bevorzugen. Das steht im Einklang mit der oben beschriebenen Evolutionshypothese der Depression, weil ein Wettbewerb mit einem möglicherweise stärkeren Gegenspieler zu einer Niederlage führen könnte (Price u. a., 1994). Interessanterweise änderte sich das Wettbewerbsverhalten der Betroffenen, wenn der gesundheitliche Status des Gegenspielers dem eigenen glich. Fast 90 % der depressiven Probandinnen entschieden sich für den Wettbewerb, wenn ihre Gegenspielerin die gleiche Diagnose hatte (auch an Depression litt), wobei nur 50 % der gesunden Kontrollpersonen bei gleicher Diagnose (gesund) den Wettbewerb wählten. Dabei korrelierte die Neigung zum Wettbewerb negativ mit der Schwere der depressiven Symptome. Die depressiven Patientinnen neigten also dazu, gegen andere Depressive in Wettbewerb zu treten und mit einer unbekannten Person zu kooperieren. Das deutet darauf hin, dass die Patientinnen mehr Selbstvertrauen gegenüber Menschen mit der gleichen Diagnose hatten als gegenüber Menschen, über die sie keine Informationen besaßen. Die Tatsache, dass ein Großteil der Depressiven dazu neigte, gegenüber ebenfalls Depressiven in den Wettbewerb zu gehen, könnte dadurch erklärt werden, dass die von der Depression Betroffenen oft einen höheren Leistungsdruck verspüren und ihren sozialen Status zurückerlangen wollen, indem sie sich behaupten.


Über die Autoren:

Die Neurowissenschaftlerin Dr. Aleksandra Kupferberg erforschte als Postdoktorandin an der Universität Bern bei Professor Gregor Hasler das soziale Verhalten bei psychischen Störungen und übernahm 2017 die wissenschaftliche Leitung des KOJ­ Hearing­Research­Centers. In ihrer Doktorarbeit an der Ludwig­Maximilians­Universität München verwendete sie bildgebende Methoden, um die neuronalen Korrelate des sozialen Verhaltens zu untersuchen. Beim KOJ­Hearing­Research­Center führt sie klinische Studien zur Wirksamkeit des Hörtrainings durch, unterstützt die Weiterentwicklung der Lernprogramme aus psycho­logischer Sicht, betreut die Zusammenarbeit mit den Ärzten und Kliniken, publiziert über aktuelle Themen in der Hörforschung und ist Ansprechpartnerin für alle forschungsrelevanten Fragen.

 

Professor Dr. med. Gregor Hasler ist Chefarzt an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UPD Bern. Ferner leitet er die Forschungsabteilung Molekulare Psychiatrie an der Universität Bern. In seiner Forschung hat er das Zusammenspiel zwischen sozialem Stress, Resilienz und neurobiologischen Faktoren bei der Entstehung von Angst, Depression und Essstörungen untersucht. Kürzlich ist ein Buch von ihm erschienen mit dem Titel „Resilienz: Der Wir-Faktor“. Darin beschreibt Hasler die große Bedeutung sozialer Beziehungen und der Kommunikation für die psychische Gesundheit.