Gendefekt erklärt Innenohr­schwerhörigkeit zehntausender Europäer

Veröffentlich im Ärzteblatt.

Nijmegen – Forscher aus den Niederlanden haben einen Gendefekt entdeckt, der zu einer Störung der Haarzellen im Innenohr führt, die akustische Reize in Nervensignale verwandeln. Der Gendefekt wurde laut dem Bericht im Journal of Medical Genetics (2002; DOI: 10.1136/jmedgenet-2020-106863) zunächst in 12 Familien entdeckt. Spätere Analysen zeigten, dass der Gendefekt in Europa vermutlich weit verbreitet ist.

Eine Innenohrschwerhörigkeit hat häufig genetische Ursachen. Bislang wurden Störungen auf 118 Genen gefunden, die die Weiterleitung der akustischen Signale im Innenohr be- oder verhindern. Bei den meisten Gendefekten kommt es bereits im Kindesalter zur Taubheit. Bei den Familien, die ein Team um Hannie Kremer vom Radboud Universitair Medisch Centrum in Nijmegen untersucht hat, trat die Innenohrschwerhörigkeit im Durchschnitt erst im Alter von 30 Jahren auf. Hörstörungen in diesem Alter sind ebenfalls zu einem hohen Anteil genetisch bedingt. Die Heritabilität wird auf 30 bis 70 % geschätzt. Genetische Ursachen wurden jedoch bisher selten gefunden.

Die Forscher kamen dem neuen Gendefekt durch eine Exom-Analyse von erkrankten Mitgliedern einer Familie auf die Spur. Auf dem Chromosom 6 fehlte im RIPOR2-Gen ein kurzer Abschnitt (Deletion). Der Gendefekt war bei 20 der 23 Familienmitglieder mit bestätigtem Hörverlust vorhanden. Er wurde allerdings auch bei drei weiteren Familienmitgliedern im Alter von 23, 40 und 51 Jahren gefunden, die noch keinen Hörstörungen hatten.

Dies veranlasste die Forscher, in weiteren 11 Familien mit einer Häufung einer Innenohr­schwerhörigkeit nach dem Gendefekt zu suchen. Zu ihrer Überraschung wurde die identische genetische Variante bei 39 von 40 Familienmitgliedern mit bestätigtem Hörverlust gefunden sowie bei zwei Personen im Alter von 49 und 50 Jahren, die (noch?) nicht von einem Hörverlust betroffen waren.

Ein identischer Gendefekt bei nicht verwandten Personen deutet darauf hin, dass es sich um eine „ältere“ Mutation handelt. Die Forscher recherchierten zunächst in der Datenbank „SE-NL“, die die genetischen Daten von 22.952 Menschen aus dem Südwesten der Niederlande gespeichert hat. Dort gab es 18 Treffer, was eine Prävalenz von 0,0392 % in der dortigen Bevölkerung ergibt.

Daraufhin wurde die „gnomAD“-Datenbank mit 32.287 Menschen (nicht-finnischer) nordwesteuropäischer Herkunft analysiert. Dort hatten Menschen oder 0,0077 % die Deletion auf dem Chromosom 6.

Auf die Bevölkerung hochgerechnet könnte der Gendefekt die Innenohrschwerhörigkeit von mehr als 13.000 Menschen in den Niederlanden und von weiteren 30.000 Menschen in Nordwesteuropa erklären. Es steht zu vermuten, dass die Deletion, deren Herkunft offenbar weit in die Evolution zurückreicht, auch in anderen Regionen Europas und in Deutschland verbreitet ist.

Experimente an Mäusen zeigten, dass der Gendefekt zu einer Störung in den Haarzellen führt. Dort werden die durch die Schallwellen induzierten Bewegungen in den Membranen des Corti-Organs in Nervenimpulse verwandelt. © rme/aerzteblatt.de