Wie sich unser Gehirn entwickelt

Wissenschaft

Wie gross ist das Gehirn eines normal entwickelten Sechsjährigen? Wann im Leben entwickeln sich bestimmte Hirnregionen besonders stark? Und in welchem Masse nimmt die Hirnmasse im Alter ab? Erstmals lassen sich solche Fragen nun auf Grundlage einer grossen Datenbasis beantworten. Mithilfe von über 100.000 Hirnscans von Menschen aller Altersstufen haben Forscher standardisierte Referenzdiagramme erstellt. Diese geben Aufschluss über die typische Entwicklung unseres Gehirns im Laufe des Lebens und erlauben auch Einblicke in krankhafte Veränderungen. Die öffentlich zugängliche Datenbank soll in Zukunft eine wichtige Forschungsressource darstellen und könnte mit weiteren Ergänzungen ein Standardinstrument der klinischen Praxis werden.

In der Kinderheilkunde sind Wachstumskurven seit mehr als 200 Jahren Standard. An ihnen lässt sich schnell und einfach ablesen, ob beispielsweise Körpergrösse, Kopfumfang und Gewicht eines Kindes in dem Bereich liegen, der für das entsprechende Alter zu erwarten ist. Auch unser Gehirn durchläuft im Laufe unseres Lebens gravierende Entwicklungen. Wie und wann genau diese typischerweise ablaufen, war allerdings bislang unklar. Zwar erlauben Magnetresonanztomographie-Aufnahmen Einblicke ins lebende Gehirn, doch die Datenbasis war bislang zu gering, um daraus allgemeine Standards abzuleiten.

Daten aus über 100 Studien

Diese Forschungslücke hat ein Team um Richard Bethlehem von der University of Cambridge nun geschlossen. Dazu trugen die Wissenschaftler in einem aufwendigen Verfahren Hirnscans von mehr als 100.000 Menschen weltweit zusammen, die in über 100 Studien veröffentlicht worden waren. Die Altersspanne der Probanden reichte dabei von ungeborenen Föten 115 Tage nach der Empfängnis bis hin zu 100-jährigen Senioren. „Auf diese Weise konnten wir die sehr frühen, raschen Entwicklungsschritte des Gehirns ebenso dokumentieren wie den langsamen Rückgang im Alter“, sagt Bethlehem.

Eine Herausforderung für die Forscher war die grosse methodische Variabilität der verschiedenen Studien. „Bei Daten aus der Bildgebung des Gehirns sind die Dinge etwas komplizierter, als wenn man einfach ein Massband nimmt und die Grösse oder den Kopfumfang einer Person misst“, sagt Co-Autor Jakob Seidlitz von der University of Pennsylvania. Zunächst mussten die Forscher die Daten also vereinheitlichen. Sie begannen mit einfachen Eigenschaften wie dem Volumen der grauen und der weissen Substanz und erweiterten ihre Arbeit dann auf feinere Details wie die Dicke des Kortex und das Volumen bestimmter Hirnregionen.

Meilensteine der Hirnentwicklung

Dabei belegten sie bedeutende Meilensteine der Hirnentwicklung, die zum Teil bereits vermutet worden waren, zum Teil neu entdeckt wurden. So zeigen die Daten, dass das Gehirn ab Mitte der Schwangerschaft bis zum dritten Lebensjahr besonders schnell wächst – von zehn Prozent seiner späteren Grösse auf 80 Prozent. Die Graue Substanz, die aus Gehirnzellen besteht, erreicht im Alter von sechs Jahren ihr Maximalvolumen und nimmt danach ab. Die Weisse Substanz, die aus Verbindungen zwischen den Gehirnzellen gebildet wird, wächst bis kurz vor dem 29. Lebensjahr. Danach beginnt das Gehirn, sehr langsam wieder zu schrumpfen, wobei sich der Rückgang des Volumens ungefähr ab dem 50. Lebensjahr etwas beschleunigt.

Da der Datensatz auch zahlreiche Aufnahmen krankhaft veränderter Gehirne beinhaltet, konnten die Forscher zusätzlich sehen, wie sich Krankheiten wie beispielsweise Alzheimer-Demenz auf unser Denkorgan auswirken. So nimmt das Gehirnvolumen bei Alzheimer-Patienten deutlich schneller ab, als es eigentlich für das jeweilige Alter der Betroffenen typisch wäre. „In Zukunft kann unser Referenzrahmen womöglich zur Beurteilung von Patienten eingesetzt werden, die auf Krankheiten wie Alzheimer untersucht werden“, sagt Bethlehem. „Indem Ärzte vergleichen, wie schnell sich das Gehirnvolumen eines Patienten im Vergleich zu Gleichaltrigen verändert hat, könnten sie mögliche Anzeichen einer krankhaften Neurodegeneration erkennen.“

Wachsende Datenbank

Bevor die neu erstellten Referenzdiagramme aber tatsächlich Eingang in die klinische Praxis finden, müssen sie den Forschern zufolge mit weiteren Daten ergänzt werden. Beispielsweise wäre es hilfreich, weitere Hirnscans von nicht-westlichen Personen zu integrieren, da diese bislang im Datensatz unterrepräsentiert sind. „Wir befinden uns mit unseren Gehirndiagrammen noch in einem sehr frühen Stadium“, erklärt Bethlehem. „Aber unsere Arbeit zeigt, dass es möglich ist, diese Instrumente durch die Zusammenführung grosser Datensätze zu erstellen.“

Um weiteren Forschern zu ermöglichen, ihre Daten zum Projekt beizutragen, hat sein Team alle Daten frei zugänglich auf einer Webseite veröffentlicht und stellt ein Tool zur Verfügung, mit dem sich weitere Datensätze daran anpassen und integrieren lassen. „Wir gehen davon aus, dass wir die Diagramme ständig aktualisieren und auf diesen Modellen aufbauen werden, sobald neue Daten zur Verfügung stehen“, sagt Seidlitz. „Durch die Schaffung einer gemeinsamen Sprache für Hirnbilder haben wir die notwendige Brücke geschlagen, die dazu beitragen wird, Erkenntnisse aus der Bildgebung in die klinische Praxis zu bringen.“