Pauken und Trompeten als Risiko: Hörverluste und Tinnitus bei Berufsmusikern

Werden Musiker häufiger schwerhörig als andere Berufsgruppen? Das legen die Ergebnisse einer neuen Studie aus Deutschland nahe. Erstellt von einem Team um Prof. Dr. Wolfgang Ahrens, Leiter der Abteilung Epidemiologische Methoden und Ursachenforschung am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie-BIPS GmbH in Bremen, ist sie jetzt im Journal of Occupational und Environmental Medicine erschienen [1].

Dreieinhalbfach erhöht im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ist bei Berufsmusikern demnach das Risiko für einen lärminduzierten Hörverlust. Das Tinnitus-Risiko liegt bei den Profispielern um 57% über dem der Nicht-Musiker. In die historische Kohortenstudie, die das aufzeigt, sind die Daten von mehr als 3 Millionen Berufstätigen im Alter zwischen 19 und 66 Jahren eingegangen.

„Frühere Studien ließen zwar ahnen, dass es nicht optimal bestellt ist um die Hörfähigkeit vieler Musiker. Doch das Ausmaß der Risiken war sicherlich nicht absehbar“, so der Koautor der Studie, Prof. Dr. Gunter Kreutz, im Gespräch mit Medscape Deutschland.

Kreutz lehrt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Systematische Musikwissenschaften und betont:  „Die Studie mit ihrem großen Datenbestand gibt einen interessanten und guten Hinweis darauf, dass das Thema bei Musikern weiterhin ernst genommen werden muss“, merkt Dr. Martin Fendel, Facharzt für Arbeitsmedizin/Umweltmedizin und Innere Medizin sowie Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin (DGfMM) an.

Allerdings hält er für gut möglich, dass „das Risiko nun höher aussieht, als es wirklich ist – es kann ja gut sein, dass Musiker sensibler als andere sind, was ihr Gehör angeht, und sich früher Hilfe beim Arzt suchen.“ Allgemein falle Betroffenen ihre Schwerhörigkeit meistens erst auf, wenn „60 bis 70% der Haarzellen im Innenohr zerstört sind“. So sei in der Allgemeinbevölkerung vielleicht doch ein höherer Anteil von Menschen mit Hörverlust vorhanden, als die Studie abbilde – nur seien diese noch ohne Diagnose.

Fest steht: Schon seit 5 Jahrzehnten erforschen internationale Wissenschaftler, inwiefern die Arbeit als Musiker das Gehör beeinflusst. Lange sprachen Studien dafür, dass das intensive, regelmäßige Üben und Auftreten den Ohren der Musiker schaden kann – bei Orchestermusikern ebenso wie bei Rock- und Jazzmusikern [2,3]. 2012 jedoch vermittelte eine kanadische Studie, dass dem nicht so sei – im Gegenteil: Musiker seien in jedem Alter tendenziell mit einem besseren Gehör gesegnet als Nicht-Musiker [4].

„In den letzten Jahren hieß es also, da müssten wir nichts machen und könnten uns entspannen“, berichtet Fendel, der selbst als Oboist und Blockflötist auftritt, im Interview mit Medscape Deutschland. Die aktuelle Lehrmeinung zurzeit sei: „Das schlechte Hören selbst ist bei Musikern selten vertreten, doch andere Symptome wie Tinnitus, die Musiker ebenso stark oder noch stärker stören können, kommen bis zu viermal häufiger vor.“

An der kanadischen Studie hatten allerdings nur 74 Musiker und 89 Nicht-Musiker teilgenommen – die neue deutsche Studie ermöglichte Einblick in die Krankenkassendaten von 3 Millionen Berufstätigen, davon 2.227 Berufsmusikern. Im analysierten Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Dezember 2008 kam es zu 283.697 neuen Diagnosen eines Hörverlusts, darunter 238 bei Berufsmusikern. „Es kann ja gut sein, dass Musiker sensibler als andere sind, was ihr Gehör angeht, und sich früher Hilfe beim
Arzt suchen.“

Rock oder Pop, Bach oder Wagner? Mit welcher Musik die Studienteilnehmer ihren Lebensunterhalt verdienten, ging aus den Versicherungsdaten nicht hervor. Ebenso wenig der Grad des Hörverlusts. Dafür aber Geschlecht, Alter und die ICD-10-Codes der Diagnosen. Als Hörverlust im Sinne der Studie galten die Codes H83.3 (Lärmschädigungen des Innenohrs), H 90 (Hörverlust durch Schallleitungs- oder Schallempfindungsstörung) und H93.1 (Tinnitus aurium).

Deutlich zu erkennen dabei: Wer mit der Musik seinen Lebensunterhalt verdiente, wurde signifikant häufiger mit Tinnitus oder eben Hörverlust auffällig. Für Tinnitus lag die Hazard Ratio bei Berufsmusikern bei 1,57 (95%-KI;1,34-1,85), für den lärmbedingten Hörverlust sogar bei 3,61 (95%-KI;1,81-7,20).

Für alle erfassten Hörverluste lag im Vergleich Musiker-Nichtmusiker die Hazard Ratio bei 1,27 – berücksichtigten die Wissenschaftler mögliche Störgrößen wie Geschlecht, Alter, Stadt- und Landbevölkerung oder Krankenkasse, wurden die Unterschiede noch deutlicher. „Unsere Daten legen nahe, dass bei professionellen Musikern die Risiken eines musikinduzierten Hörverlusts bei weitem die Benefits für die Hörfähigkeit übertreffen, von denen in der früheren Studie aus Kanada] berichtet wird“, betonen die Studienautoren abschließend.

Kreutz ergänzt: „Hörschäden kommen leise und schmerzlos, und viele Musiker fühlen sich darüber hinaus stigmatisiert, wenn sie zugeben, schlecht zu hören. Wir hoffen, dazu beizutragen, dass über das Thema anders diskutiert wird und dass z. B. die gängige Aufführungspraxis bei Konzerten hinterfragt wird. Hörschäden kommen leise und schmerzlos, und viele Musiker fühlen sich darüber hinaus stigmatisiert, wenn sie zugeben, schlecht zu hören.“

Nun gibt es einige Möglichkeiten, die Schallbelastung von Musikern zu reduzieren. Fendel lobt, dass sich an vielen Aufführungsorten in Deutschland einiges bewegt – dass in Hallen und Konzertsälen Räume entsprechend gestaltet werden, z. B. mit Akustik-Stellwänden,  Reflektoren und Absorbern. „Was hingegen noch nicht befriedigend gelöst ist, ist der Umgang mit dem individuellen Gehörschutz“, kritisiert Fendel. „Durch den Gehörschutz hat man unter anderem den Okklusionseffekt, ein gewisser Schallanteil bleibt also  im Gehörgang gefangen, er lässt Stimme oder Blasinstrument laut und fremd klingen. Gewöhnung verbessert das Empfinden auch nur teilweise.“ Er verweist auf eine Untersuchung, die herausarbeitete, dass zwar mehr als 80% der befragten Orchestermusiker sich mit individuell angepasstem Gehörschutz auskannten, doch weniger als 16% ihn auch regelmäßig nutzten [5].

Fendel versteht das:  „Viele Musiker sagen, sie können dann die Leistung nicht bringen, die von ihnen erwartet wird.“ Er hält zudem für möglich, dass nur eine kleine Gruppe von Musikern allgemein eine Disposition für einen Hörverlust aufweist, sodass diese unbedingt einen Gehörschutz tragen sollten – andere könnten dann darauf verzichten. „Was hingegen noch nicht befriedigend gelöst ist, ist der Umgang mit dem individuellen Gehörschutz.“

Für Fendel sollte die Forschung darum auch in andere Richtungen weitergehen: „Es gilt zu klären, wie hoch beim einzelnen Musiker das individuelle Risiko für Tinnitus oder Hörverluste ist. Da spielt ja ganz viel mit rein: erbliche Faktoren, der Lifestyle, Musikhörgewohnheiten. Tinnitus kann durch Stress getriggert oder verstärkt werden, das ist multifaktoriell, Lärm ist dabei nur ein Faktor. All diese Zusammenhänge sind noch lange nicht ausreichend untersucht worden.“

Fendel wünscht sich daher prospektive Studien, „mit einer großen Gruppe von Menschen und am besten mit einem Nullwert, der den Zustand vor Beginn der Musikexposition wiedergibt. Und dann gilt es, nachzuprüfen: Wie ist das Gehör nach 3, wie nach 6 Jahren der Exposition?“ So könnte der Einfluss der Musik und anderer Faktoren einerseits, die Identifikation von Risikogruppen andererseits gelingen und bei Menschen, bei denen ein beginnender Hörverlust erkannt wird, frühzeitig Schlimmeres verhindert werden.

Auch Kreutz wünscht sich weiterführende Studien zum Thema, allen voran „zum Beispiel dazu, welche Beziehungen bestehen zwischen Hörschäden und anderen gesundheitlichen Problemen von Musikern. Sind Hörverluste quasi ein spezifisches Problem oder hängen sie mit anderen Störungen zusammen?“ Abschließend hätte er gerne geklärt, „ob und inwiefern von den Hörschäden Konsequenzen für die Berufsausübung langfristig ausgehen.“

Referenzen:

  1. Schink T, et al: Occup Environ Med (online) 30. April 2014
    http://dx.doi.org/10.1136/oemed-2014-102172
  2. Pawlaczyk-Luszczynska M, et al: Int J Occup Saf Ergon. 2011;17(3):255-269
    http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21939598
  3. Kähäri K, et al: Int J Audiol. 2003;42(5):279-288
    http://dx.doi.org/10.3109/14992020309078347
  4. Zendel BR, et al: Psychol Aging 2012; 27(2):410-417
    http://dx.doi.org/10.1037/a0024816
  5. Zander MF, et al: Noise Health 2008;10(38):14-26
    http://dx.doi.org/10.4103/1463-1741.39004

Quelle: https://deutsch.medscape.com/artikel/4902202