Veröffentlicht vom Ärzteblatt.
Cambridge/USA – Eine neue Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) legt nahe, dass Kinder die Grammatik einer neuen Sprache viel länger als erwartet perfekt lernen können – bis zum Alter von 17 oder 18 Jahren (Science Direct 2018; doi: 10.1016/j.cognition.2018.04.007). Die Studie ergab jedoch auch, dass es für Menschen fast unmöglich ist, eine muttersprachliche Kompetenz zu erreichen, wenn sie nicht bereits im Alter von 10 Jahren mit dem Erlernen einer Sprache beginnen. Die Ergebnisse der Forscher beziehen sich allerdings nur auf die Sprache Englisch.
„Wenn Sie muttersprachliche Kenntnisse der englischen Grammatik haben wollen, sollten Sie mit etwa 10 Jahren beginnen. Wir sehen keinen großen Unterschied zwischen Menschen, die bei der Geburt beginnen und Menschen, die mit 10 beginnen, aber wir sehen einen Rückgang danach“, sagte Joshua Hartshorne, ein Assistenzprofessor für Psychologie am Boston College, der diese Studie als Postdoc am MIT durchgeführt hat.
„Bis jetzt war es sehr schwierig, alle Daten zu erhalten, die man braucht, um die Frage zu beantworten, wie lange die kritische Periode zum Spracherwerb dauert“, sagte Josh Tenenbaum, MIT-Professor für Gehirn- und Kognitionswissenschaften und Autor der Arbeit. „Das ist eine dieser seltenen Gelegenheiten in der Wissenschaft, wo wir an einer Frage arbeiten könnten, die sehr alt ist, über die viele kluge Leute nachgedacht und geschrieben haben und wir eine neue Perspektive einnehmen und etwas sehen, was andere vielleicht nicht haben“, so der Wissenschaftler.
Die Forscher wählten einen besonderen Ansatz, um ihre Fragestellung zu beantworten. Sie beschlossen, Schnappschüsse von Hunderttausenden von Menschen zu machen, die sich in verschiedenen Phasen des Englischlernens befanden. Durch die Messung der grammatikalischen Fähigkeiten vieler Menschen unterschiedlichen Alters, die an verschiedenen Stellen in ihrem Leben Englisch lernten, könnten sie genügend Daten erhalten, um zu aussagekräftigen Schlussfolgerungen zu kommen, so ihre Hoffnung.
Hartshornes ursprüngliche Schätzung war, dass sie mindestens eine halbe Million Teilnehmer brauchten – beispiellos für diese Art von Studie. Angesichts der Herausforderung, so viele Testpersonen anzulocken, machte er sich daran, ein Grammatikquiz zu erstellen, das unterhaltsam genug wäre, um in sozialen Netzwerken als viraler Inhalt geteilt zu werden.
Nach der Teilnahme am Quiz wurden die Nutzer gebeten, ihr aktuelles Alter und das Alter, in dem sie Englisch zu lernen begannen, sowie weitere Informationen über ihren Sprachhintergrund anzugeben. Die Forscher hatten am Ende vollständige Daten für 669.498 Personen.
Sie entwickelten und testeten daraufhin eine Vielzahl von Computermodellen, um zu sehen, welche am besten mit ihren Ergebnissen übereinstimmten, und fanden heraus, dass die beste Erklärung für ihre Daten darin besteht, dass die Grammatiklernfähigkeit bis zum Alter von 17 oder 18 Jahren stark bleibt und dann sinkt. Die Ergebnisse deuten also darauf hin, dass die kritische Zeit für das Erlernen von Sprache viel länger ist, als die Kognitionswissenschaftler bisher dachten. Noch unbekannt ist, was dazu führt, dass die kritische Phase um das Alter von 18 Jahren endet. Die Forscher schlagen vor, dass kulturelle Faktoren eine Rolle spielen könnten, möglicherweise seien es aber auch Veränderungen in der Plastizität des Gehirns.
„Es ist möglich, dass es eine biologische Veränderung gibt. Es ist auch möglich, dass es etwas Soziales oder Kulturelles ist“, sagte Tenenbaum. „Es gibt in vielen Gesellschaften eine Zeit, in der man minderjährig ist, bis zu einem Alter von 17 oder 18 Jahren. Danach verlassen Sie Ihr Zuhause, arbeiten vielleicht Vollzeit oder werden Fachstudent. All das könnte Ihre Lernrate für jede Sprache beeinflussen“, so der Wissenschaftler. © hil/aerzteblatt.de