Auditorisches Training für besseres Sprachverstehen bei schwerhörigen und tauben Kindern

Ein Artikel von Dr. Alexandra Kupferberg.

Während die Schließung der Kindergärten und Schulen aufgrund der COVID-19-Pandemie das Leben von Schülern und Eltern auf der ganzen Welt auf den Kopf stellte, traf die extreme Isolation hörgeschädigte und taube Kinder besonders hart. Den meisten dieser Kinder fällt es schwer, sogar mit ihrer Familie zu kommunizieren, da viele Eltern die Gebärdensprache nie gelernt haben. Auch kann die monatelange Unterbrechung der Wissensvermittlung negative Auswirkung auf soziale Kompetenz und emotionale Verfassung einiger schwerhöriger und tauber Kinder haben. Dieser Newsletter gibt einen Überblick über die Folgen der sozialen Distanzierung für die geistige Gesundheit und die Lebensqualität betroffener Kinder und diskutiert computerbasiertes auditorisches Training als eine Möglichkeit, das Sprachverstehen von zu Hause aus gezielt zu trainieren.

 

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Warum Kinder mit Hörverlust einer höheren Belastung durch soziale Isolation ausgesetzt sind

Die COVID-19 Krise bedingt erhebliche Einschränkungen für die Jüngsten.

Am 11. März 2020 erklärte die WHO COVID-19 zur globalen Pandemie mit u. a. der Folge, dass am 13. März die meisten Schulen und Kitas geschlossen wurden. Obwohl die Zahl der Neuinfektionen rückläufig ist, hat das Coronavirus das gesellschaftliche Leben hierzulande noch fest im Griff. Viele Kinder, die von Hörverlust betroffen sind, wurden während des Lockdowns nicht nur aus dem öffentlichen und sozialen Leben in besonderem Maße ausgeschlossen. Sie mussten in einer Art doppelten Abgeschiedenheit leben, zusätzlich zur Einschränkung des Hörvermögens erfolgte eine „kommunikative Isolation“ in Haushalten, in denen Familienmitglieder oft Schwierigkeiten haben, in Gebärdensprache zu kommunizieren. Der Großteil (97,7 %) der taub geborenen Kinder wächst bei hörenden Eltern auf (Bredel and Maaß 2016). Der Großteil derselbigen kann keine Gebärdensprache sprechen, sodass taube Kinder die in der Familie gebräuchliche Sprache, im Gegensatz zu hörenden Kindern, nicht im frühen Kindesalter erlernen können. Bei einigen Eltern herrscht zudem eine Voreingenommenheit gegenüber der Gebärdensprache. Überdies zieht das Frühförderungssystem bei tauben und schwerhörigen Kindern oft die Lautsprache der Gebärdensprache vor. 

Kommunikationsprobleme und soziale Isolierung der schwerhörigen und gehörlosen Kinder in der aktuellen Situation

Der Wunsch nach sozialen Beziehungen entwickelt sich in der frühen Kindheit und bildet eine Grundlage für den Erwerb von sozialer Kompetenz im Erwachsenenalter (Hartup 1983). So korrelieren positive Interaktionen mit Gleichaltrigen in der frühen Kindheit mit einer besseren sozialen Anpassung in der Schule, besserer Emotionskontrolle (McElwain and Volling 2005; Odom, McConnell, and Brown 2007) und dem akademischen Erfolg (Buhs, Ladd, and Herald 2006). Eine Studie zeigte sogar, dass Kinder mit Hörverlust oft Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse dem Schulpersonal gegenüber zu kommunizieren, und sich manchmal wegen ihres Hörverlustes missverstanden oder sogar unterdrückt fühlen können (Edmondson and Howe 2019). 

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass taube Kinder oft auf Ablehnung durch Gleichaltrige stoßen (Stinson and Antia 1999), sozial ausgeschlossen werden und bei normalhörenden Altersgenossen unbeliebt sind (Ridsdale and Thompson 2002). Hörende Schülerinnen und Schüler bevorzugen oft hörende Gleichaltrige als Freunde (Nunes, Pretzlik, and Olsson 2001), was zu Isolation und Einsamkeit bei Kindern mit Hörproblemen führen kann (Wauters and Knoors 2008). Unterschiede zwischen tauben und hörenden Kindern in Bezug auf Freundschaften wurden bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten in einer Studie, in der die Interaktionen von Vorschulkindern auf dem Spielplatz über einen Zeitraum von sieben Monaten beobachteten wurden, aufgezeigt (Lederberg et al. 1987). Dabei wurden zwei Arten positiver Interaktionen zwischen Kindern unterschieden: einerseits die sporadische Freundschaft, charakterisiert durch gelegentliche und positive Interaktion und das parallele Spielen, und andererseits die langfristige Freundschaft, charakterisiert durch die gegenseitige Vorliebe füreinander und interaktives Spielen. Obwohl während der Studiendauer bei allen hörenden und gehörlosen Kindern mindestens eine langfristige Freundschaft vorhanden war, gab es einen signifikanten Unterschied zwischen dem Freundschaftsmuster der hörenden und der gehörlosen Kinder. Während die Mehrheit der Freundschaften der hörenden Kinder langfristig angelegt war, war das häufigste Freundschaftsmuster bei den gehörlosen Kindern sporadisch. So waren gehörlose Kinder im Vorschulalter zu genauso vielen positiven Interaktionen mit Gleichaltrigen fähig wie hörende Schüler, wurden aber in deutlich weniger Fällen als Spielpartner von hörenden Kindern bevorzugt. Somit erscheint es nachvollziehbar, dass hörende Schüler*innen sozial erfolgreicher als ihre gehörlosen Altersgenossen sind (Marschark et al. 2012). 

Die moderne Generation von Kindern und Teenagern ist es gewohnt, über ihre Geräte wie Tablets oder Smartphones online zu kommunizieren. Kinder mit starker Hörschädigung ist des nur bedingt möglich.

Die Schließung der Schulen und Kitas während der Corona-Pandemie dürfte wahrscheinlich zusätzliche negative Einflüsse auf die soziale Entwicklung der schwerhörigen und tauben Kinder haben. Es konnte gezeigt werden, dass  Kinder, die eine Kindertagesstätte besuchten, effektiver mit Gleichaltrigen interagieren konnten als Kinder, die keine Tagesstätte besuchten (Stolk et al. 2013). Die moderne Generation von Kindern und Teenagern ist es gewohnt, über ihre Geräte wie Tablets oder Smartphones online zu kommunizieren, sodass für viele von ihnen die soziale Distanzierung wahrscheinlich leichter ist als für ältere Generationen. Viele Kinder und Teenager haben sich während der Pandemie bereits an die neuen sozialen Regeln adaptiert und organisieren „virtuelle Übernachtungen“, lange Video-Chats und Kinoabende über Streaming-Anbieter. 

All diese Coping-Strategien sind für Kinder mit starker Hörschädigung oder Taubheit nur bedingt anwendbar oder möglich. Insbesondere diejenigen, die das Lippenlesen oder die Gebärdensprache verwenden, werden von solchen Interaktionen in gewissem Umfang ausgeschlossen. Auch der Online-Unterricht stellt Kinder, die Technologien wie Hörgeräte oder Cochlea-Implantate verwenden, vor große Herausforderungen. Verständnisschwierigkeiten beim Hören der Lehrperson durch technische Probleme wie Verzerren oder Ausfallen des Tons können bei der elektronischen Übermittlung auftreten. Des Weiteren sind üblicherweise Untertitel beim Online-Unterricht nicht vorhanden und es fehlt die Möglichkeit, bei Schwierigkeiten mit dem Verstehen, die Mitschüler um Hilfe zu bitten.

Auditorisches Training für besseres Sprachverstehen bei Kindern mit Hörminderung

Kinder mit Hörverlust haben bei Abwesenheit von Nebengeräuschen eine ähnliche Entwicklung der auditiven Fähigkeiten aufzuweisen wie ihre normalhörenden Altersgenossen (Sullivan, Thibodeau, and Assmann 2013). Bei komplexeren Höraufgaben, die anspruchsvolle Fähigkeiten erfordern wie z. B. Spracherkennung im Lärm, treten bei Kindern mit Hörverlust jedoch Defizite auf (Jerger 2007). Diese Schwierigkeit, Sprache im Lärm zu verstehen, wirkt sich negativ auf ihre Sprachentwicklung und ihren akademischen Fortschritt aus und ist in der Literatur gut dokumentiert (Dockrell and Shield 2004; Stelmachowicz et al. 2004). 

Mit dem Fortschritt der Technologie und der E-Learning-Programme haben computergestützte Programme für das Trainieren der Hörfähigkeit und des Sprachverstehens bei Lärm große Aufmerksamkeit erregt. Obwohl computergestütztes kognitives Training positive Effekte auf das Sprachverstehen hatte und die Effekte sogar auf der neuronalen Ebene gezeigt werden konnten (Angelucci et al. 2015; Fisher et al. 2016; Kupferberg, Koj, and Radeloff 2019; Sweetow and Palmer 2005), hat man die Wirkung fast ausschließlich bei erwachsenen Kollektiven getestet. Jedoch wurden in den letzten Jahren aufgrund der positiven bisherigen Ergebnisse und der Vorteile einer Anwendung in Heimnutzung auch mehrere computerbasierte Trainings für Kinder auf den Markt gebracht, wie zum Beispiel Angel Sound Training und Otto’s World of Sounds für Hörgeräteträger und Trainings von Advanced Bionics, MED-EL und  Cochlear für Kinder nach Cochleaimplantatversorgung (Nanjundaswamy et al. 2018). 

Bis jetzt gibt jedoch kaum Studien zum Nachweis einer Wirksamkeit dieser Programme bei Kindern. Dennoch ist die Bedeutung der Frühintervention bei Gehörlosigkeit oder Schwerhörigkeit eine allgemein anerkannte Tatsache, da es enorm wichtig ist, dass das Kind in seinen frühen Jahren die meiste auditive Stimulation erhält und damit eine altersgerechte auditorische Entwicklung stattfinden kann. 

Die Notwendigkeit der Durchführung zukünftiger Studien zum Nachweis der Wirksamkeit der bestehenden Programme für Kinder und die Anpassung von Trainingsprogrammen für Erwachsene an Bedürfnisse und Fähigkeiten von Kindern ist aus unserer Sicht in dringendem Maße gegeben. 

Das Gehirn bietet das wahrscheinlich grösste Potenzial zur Reaktivierung der Hörverarbeitung. Genau an diesem Punkt setzt die medizinische KOJ®Gehörtherapie an, bei der Hirnverarbeitung.

Das Koj-Institut für Gehörtherapie hat bereits die erste Pilotstudie an Kindern für den Sommer 2020 geplant. Hier soll die Auswirkung des Trainings auf Sprachverstehen untersucht werden. Mit der Koj-Gehörtherapie sollen sich nicht nur das Sprachverstehen bei Hintergrundgeräusch, sondern auch wichtige kognitive Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit trainieren lassen. Ein angepasstes und effektives Training dieser Aspekte könnte das alltägliche Leben und die Kommunikation der betroffenen Kinder entscheidend positiv beeinflussen.

 

 

 

 

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Referenzen:

  • Angelucci, Francesco, Antonella Peppe, Giovanni A. Carlesimo, Francesca Serafini, Silvia Zabberoni, Francesco Barban, Jacob Shofany, Carlo Caltagirone, and Alberto Costa. 2015. “A Pilot Study on the Effect of Cognitive Training on BDNF Serum Levels in Individuals with Parkinson’s Disease.” Frontiers in Human Neuroscience 9.
  • Bredel, Ursula, and Christiane Maaß. 2016. Leichte Sprache: Theoretische Grundlagen ?Orientierung für die Praxis. Bibliographisches Institut GmbH.
  • Buhs, Eric S., Gary W. Ladd, and Sarah L. Herald. 2006. “Peer Exclusion and Victimization: Processes That Mediate the Relation Between Peer Group Rejection and Children’s Classroom Engagement and Achievement?” Journal of Educational Psychology 98(1):1–13.
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  • Edmondson, Suzanne, and Julia Howe. 2019. “Exploring the Social Inclusion of Deaf Young People in Mainstream Schools, Using Their Lived Experience.” Educational Psychology in Practice 35(2):216–28.
  • Fisher, Melissa, Synthia H. Mellon, Owen Wolkowitz, and Sophia Vinogradov. 2016. “Neuroscience-Informed Auditory Training in Schizophrenia: A Final Report of the Effects on Cognition and Serum Brain-Derived Neurotrophic Factor.” Schizophrenia Research: Cognition 3:1–7.
  • Hartup, W. 1983. Peer Relations. Handbook of Child Psychology. Wiley York NY.
  • Jerger, Susan. 2007. “Current State of Knowledge: Perceptual Processing by Children with Hearing Impairment.” Ear and Hearing 28(6):754–65.
  • Kupferberg, Aleksandra, Andreas Koj, and Andreas Radeloff. 2019. “Auditorisches Training Verbessert Sprachverstehen Und Kognitive Leistung.” HNO Nachrichten 49:32–37.
  • Lederberg, Amy R., Victor Rosenblatt, Deborah Lowe Vandell, and Steven L. Chapin. 1987. “Temporary and Long-Term Friendships in Hearing and Deaf Preschoolers.” Merrill-Palmer Quarterly 33(4):515–33.
  • Marschark, Marc, Rebecca Bull, Patricia Sapere, Emily Nordmann, Wendy Skene, Jennifer Lukomski, and Sarah Lumsden. 2012. “Do You See What I See? School Perspectives of Deaf Children, Hearing Children, and Their Parents.” European Journal of Special Needs Education 27(4):483–97.
  • McElwain, Nancy L., and Brenda L. Volling. 2005. “Preschool Children’s Interactions with Friends and Older Siblings: Relationship Specificity and Joint Contributions to Problem Behavior.” Journal of Family Psychology: JFP: Journal of the Division of Family Psychology of the American Psychological Association (Division 43) 19(4):486–96.
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  • Stolk, Arjen, Sabine Hunnius, Harold Bekkering, and Ivan Toni. 2013. “Early Social Experience Predicts Referential Communicative Adjustments in Five-Year-Old Children.” PLOS ONE 8(8):e72667.
  • Sullivan, Jessica R., Linda M. Thibodeau, and Peter F. Assmann. 2013. “Auditory Training of Speech Recognition with Interrupted and Continuous Noise Maskers by Children with Hearing Impairment.” The Journal of the Acoustical Society of America 133(1):495–501.
  • Sweetow, Robert, and Catherine V. Palmer. 2005. “Efficacy of Individual Auditory Training in Adults: A Systematic Review of the Evidence.” Journal of the American Academy of Audiology 16(7):494–504.

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© Dr. Kupferberg, 05-2020, KOJ HEARING RESEARCH CENTER