Vom Schall zur Deutung

Artikel von Das Gehirn

Erstaunliche Signalwandlung: Wie das Gehör aus schnellen Luftdruckschwankungen Informationen über Art und Herkunft des Schalls extrahiert und so dessen Bedeutung für uns erschließt.

 

Rauscht der Wind in den Blättern oder raschelt in dem Busch dort ein gefährliches Tier? Grollt der Donner in weiter Ferne oder ist das Gewitter schon so nah, dass es Zeit wird, einen Unterschlupf zu suchen? Wer hat die Tür im Nebenzimmer geschlossen und war der womöglich wütend? Das Gehör ist in der Lage, dem Schall vielerlei Information zu entnehmen – und das allein auf Basis der Luftdruckschwankungen, die das Ohr erreichen.

Wie erstaunlich diese Fähigkeit ist, mag jeder ermessen, der schon einmal die Gelegenheit hatte, Audiodateien in Wellenformdarstellung auf dem Computerbildschirm zu betrachten: Ein scheinbar chaotisches Auf und Ab. Denn während eine einfache Sinusschwingung als reiner Ton wahrgenommen wird, überlagern sich die Schallwellen realer Geräusche, etwa Sprache oder Musik, zu einem unübersichtlichen Durcheinander.

Arbeitsteilung der Sinneszellen

Schallwellen lassen sich allein durch Frequenz und Amplitude beschreiben. Die Frequenz gibt dabei an, wie häufig sich die Schwingung innerhalb einer Sekunde wiederholt und spiegelt die Tonhöhe wider. Die Amplitude drückt aus, mit welcher Auslenkung die Welle um die Ruhelage schwingt. Sie ist ein Maß für den Schalldruck und damit für die Lautstärke. Das gilt auch für komplizierteste Wellenformen, wie sie durch Stimmengewirr, den Geräuschteppich in einer Einkaufspassage oder ein Musikstück entstehen: Immer ist es mathematisch möglich, sie in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen, also in viele Sinus- oder Cosinuskurven unterschiedlicher Frequenz und Amplitude.

Diese Analyse nimmt auch das Gehör vor. Entscheidend dafür ist die Basilarmembran, die die Schwingungen aufnimmt und an das Corti-Organ weiterleitet, wo Haarzellen die mechanische Information aufnehmen und in ein neurologisches Signal übersetzen, das die Hörbahn hinaufrast.

Die gut drei Zentimeter lange Basilarmembran in der Innenohrschnecke ist an einem Ende schmal und steif, am anderen breit und weich. Hohe Töne lösen nahe dem schmalen, steifen Ende resonante Schwingungen aus und stimulieren die dort befindlichen Haarzellen. Tiefe Töne dagegen führen am anderen Ende zur größten Auslenkung, sodass ganz andere Nervenzellen Impulse empfangen. Und bei einem Frequenzgemisch werden die Zellen an mehreren Stellen gleichzeitig aktiv. Im Prinzip kann man sich die Basilarmembran einer entrollten Hörschnecke wie die Tastatur eines Klaviers vorstellen, auf der die verschiedenen Töne nebeneinander angeordnet sind.

Diese systematische Organisation von charakteristischen Frequenzen nennt man Tonotopie. Sie ist im Hörsystem weit verbreitet. So finden sich tonotope Karten nicht nur in der Basilarmembran, sondern auch in allen auditorischen Relaiskernen, die die Schallinformation filte

rn und weiterleiten, im Corpus geniculatum mediale (CGM) des Thalamus, das in den auditorischen Cortex projiziert, sowie im auditorischen Cortex selbst. Für das Verarbeiten von Tönen einer bestimmten Frequenz sind also jeweils spezialisierte Nervenzellen zuständig. In Sachen Tonhöhe herrscht Arbeitsteilung.

Übersetzung von Lautstärke

Die Amplitude, also die Lautstärke der einzelnen Frequenzanteile, übersetzen die Neuronen dagegen in unterschiedliche Feuerraten: Je heftiger die Schwingung, in umso schnellerer Folge generieren die für die jeweilige Frequenz zuständigen Nervenzellen Aktionspotenziale. Zudem gibt es Neuronen, die leise Töne sozusagen „überhören“ und erst bei höheren Lautstärken anfangen zu feuern. Und: Sehr laute Töne versetzen mit großen Amplituden im Corti-Organ auch benachbarte Haarzellen in Schwingung, die wiederum nachgeschaltete Neuronen aktivieren.

Die Schallintensität wird also in einer Kombination aus Feuerrate und Zahl der beteiligten Neuronen abgebildet. Das macht es möglich, den riesigen Lautstärkebereich zu codieren, den unser Gehör abdeckt. Dröhnt ein Rockkonzert dem Publikum mit 120 Dezibel entgegen, sind die Luftdruckschwankungen des Schalls schließlich eine Million Mal stärker als an der Hörschwelle bei null Dezibel.