Hörgeräte werden immer besser. Sie unterdrücken Störgeräusche und orten Schallquellen. Nur wenige Kranke nutzen den technischen Fortschritt. Lieber leugnen sie ihr Problem. Denn Hörschwächen gelten als Zeichen von Vergreisung

Jürgen Kießling brach der Schweiß aus, als er Ende Oktober auf einer Hörgeräte-Konferenz in Manchester am Rednerpult stand. Der Chef der Audiologie an der Universitätsklinik Gießen hatte gerade seinen Vortrag beendet, da erhob sich jemand in der letzten Reihe und stellte eine Frage – ohne Mikrofon, auf Englisch. «Mein Gott», dachte der Fachmann fürs Hören, «das hast du jetzt nicht verstanden.» Kießling trägt selbst ein Hörgerät, das wussten die meisten im Raum. Die Kollegen hätten Verständnis gehabt, wenn er nachgefragt hätte. Er aber versuchte lieber, mühsam den Sinn der an ihn gerichteten Worte zu erraten, und gab eine Antwort, die ungefähr dazu passte. Selbst einem Hörspezialisten kann es unangenehm sein, wenn er einem Gespräch nicht folgen kann.

Schwerhörigkeit ist mehr als das Nachlassen eines Sinnes. Die Ohren sind als Empfänger ein wichtiges Glied in der Kommunikationskette, sie stellen den Kontakt zu anderen Menschen her. Wenn diese Verbindung unterbrochen ist, hat das weitreichende Konsequenzen. Ohne akustische Reize lernen kleine Kinder nicht sprechen, und schwerhörige Erwachsene ziehen sich irgendwann aus der Gesellschaft zurück. Schätzungsweise 14 Millionen Deutsche leiden unter Schwerhörigkeit, doch nur ein knappes Fünftel von ihnen besitzt ein Hörgerät. Und viele, die eins besitzen, benutzen es nicht.

Warum diese Verweigerung? Schwerhörige werden von ihren Mitmenschen oft als «begriffsstutzig», «doof» und vor allem als alt abgestempelt – und wollen gerade deshalb kein Hörgerät. Es käme einem Eingeständnis von Schwäche gleich. Hörhilfen stehen für einen Makel, anders als Sehhilfen. Brillenträger galten schon immer als besonders belesen, intellektuell. Brillen sind als Modeaccessoire akzeptiert, Hörgeräte nicht. Selbst winzige, unsichtbare Im-Ohr-Apparate oder poppige Schmucktechnik konnten die Akzeptanz der Hörprothesen nicht steigern. Das hat paradoxe Auswirkungen: Weil der Schwerhörige das Hörgerät ablehnt, verliert er den Gesprächsfaden, antwortet unpassend und gilt dann erst recht als senil.

Das Gebrechen ließe sich leicht beheben, finden zumindest viele Außenstehende. Schließlich bringt die Industrie immer neue High-Tech-Wunder auf den Markt. Doch oft ist die Technik selbst das Problem: Viele, die sich schließlich zum Kauf eines Hörgeräts durchringen, sind danach nicht zufrieden. High-Tech-Produzenten und Anwender scheinen sich nicht besonders gut zu verstehen. Hörgeräteakustiker könnten vermitteln, häufig sind sie jedoch keine große Hilfe, auch weil das Geld für intensive Betreuung fehlt.

Schätzungsweise die Hälfte der Geräte verschwindet ungeliebt in der Nachttischschublade. Wie gut ein Patient mit seiner Hörhilfe zurechtkommt, entscheidet sich häufig beim Hörgeräteakustiker. Dort muss oft eine falsche Erwartung korrigiert und die Anpassung der Elektronik mit Fingerspitzengefühl betrieben werden. Ein Hörgerät darf nicht wie eine Brille nur bei Bedarf getragen werden, sondern sollte den größten Teil des Tages die Ohrnerven beschallen. Denn ein untrainiertes Ohr muss behutsam wieder an den Schall gewöhnt werden. Der Betroffene, zuvor jahrelang in Watte gepackt, ist meist überwältigt von den Geräuschen, die plötzlich auf ihn einrieseln. «Das Rascheln der Zeitung ertragen viele dann nicht mehr», sagt Jörg Rehkopf, Chefaudiologe bei Siemens. Er plädiert dafür, dass Hörgeräte allmählich und nicht sofort «scharf» gestellt würden. Viele Hörgeräteakustiker aber lehnen solche Ratschläge als Einmischung in die inneren Angelegenheiten strikt ab.

Die Hörgeräteakustik, einst ein Goldgruben-Business, ist unter Druck. Die Krankenkassen zahlen nur noch einen bestimmten Festbetrag. Viele Spezialisten lassen sich deshalb nicht mehr genug Zeit bei der Anpassung. Die Folge: Viele Anwender verlieren die Lust am neuen Gerät. Der ideale Einstieg in den Klub der Hörgeräteträger wäre ein Hörtraining oder eine Audiotherapie. Dort lernen Patienten wieder den feinen Unterschied von «Haus» und «Haut» und üben, das Rauschen eines Regengusses vom Rauschen der Klospülung zu unterscheiden. Aber die Audiotherapie zahlen die Krankenkassen nur denen, die sich eine aufwändige, 40000 Euro teure Cochlea-Prothese implantieren lassen. Dabei wird ein feiner Draht in das Innenohr eingeführt. Bis zu 22 Elektroden ersetzen die Funktion der verloren gegangenen Zellen in der Hörschnecke und stimulieren den Hörnerv direkt. Diese Patienten müssen das Hören völlig neu lernen. Vielen Erwachsenen fällt dies schwer; der Erfolg ist ungewiss.

Nicht gerade hilfreich für schwerhörige Patienten sind die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Medizinern und Technikern. «Die Hörgeräteindustrie berücksichtigt nicht genug, dass bei Hörminderung im Alter meist die Verarbeitung im Hirn betroffen ist», sagt Gerhard Hesse von der Tinnitus-Klinik Arolsen. Hörgeräte für alte, zentral-hörgeschädigte Menschen müssten eine maximale Störgeräusch-Unterdrückung bieten. «Eine Forderung, die die Industrie meiner Ansicht nach nicht erfüllt», sagt Hesse, dessen Spezialgebiet Hörminderungen im Alter sind. Jörg Rehkopf, der Siemens-Audiologe, spielt den Ball an die Mediziner zurück: «An der Digitaltechnik lässt sich inzwischen so viel einstellen, dass wir dringend neue Informationen von den Wissenschaftlern brauchen, welche Einstellungen überhaupt günstig sind.»

Mit den existierenden Geräten lässt sich gut arbeiten – aber sie erfordern Geduld. Hesse begleitet in seiner Klinik die Anpassung der Hörgeräte hörtherapeutisch. «Wir erreichen eine Akzeptanz von über 90 Prozent.» 85 Prozent seiner Patienten würden von der intensiven Betreuung profitieren, «außer diejenigen, die grimmig sind und nichts machen wollen».

Viele ältere Menschen fürchten sich in einer jugendfixierten Welt vor dem Altersmakel Hörgerät. Sie leugnen oder bagatellisieren das Problem und wehren sich oft gegen die akustische Krücke. Nikolaus Töpfner, der HNO-Arzt am feinen Hamburger Jungfernstieg, erlebt das häufiger. «Gerade hatte ich eine ältere Dame mit Facelifting hier sitzen», sagt er, «die will doch nichts von ihrer Schwerhörigkeit oder einem Hörgerät wissen.»

Von Harro Albrecht

Quelle: https://www.zeit.de/2005/50/S-Schwerh_9arigkeit/komplettansicht