Ein toller Artikel, zitiert von Brigitte.
Ohne ihn wären wir wortlos. Er ermöglicht Verständigung und Miteinander – und er ist ein kleines Sensibelchen.
Kino im Kopf – Wie Hören uns schützt und gesund hält. Der Hörsinn rettet Leben, deswegen wird er auch nicht abgeschaltet, wenn wir schlafen. Wir hören die Gefahr und die Richtung, aus der sie droht, und bringen uns rechtzeitig in Sicherheit. Schon dieses Alarmsystem hat eine soziale Komponente. Denn wir reagieren nicht erst, wenn wir das bedrohliche Geräusch selbst wahrnehmen, sondern auch, wenn uns andere warnen. Unsere Ohren sind nämlich besonders empfindlich für das, was sie hören wollen: Sprache. Schon Babys faszinieren menschliche Stimmen mehr als alles andere. Bereits vor der Geburt gewöhnen sie sich daran, ihre Mutter zu hören, denn ab der 20. Schwangerschaftswoche ist das Innenohr als erstes Organ unseres Körpers komplett ausgebildet. Und wie Patienten mit Nahtod-Erfahrungen berichten, endet unser Leben oft auch mit akustischen Eindrücken. Hören bedeutet zunächst Sicherheit und Nähe. Wenn ich andere höre, bin ich nicht allein.
Doch Hören ist auch Kommunikation. Unsere Sprache markiert einen kognitiven Quantensprung der Evolution, durch sie sind wir mehr als Affen mit großen Hirnen: «Die Menschwerdung vollzog sich über das Hören», erklärt
Professor Henning Scheich, Leiter des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Wir wollen hören und Gehör finden. Das ist die Grundlage jeder menschlichen Beziehung. Wenn sich unsere Vorfahren abends um das Feuer versammelten, um Erlebnisse und Geschichten zu teilen, war Zusammengehörigkeit selbstverständlich. Uns geht sie zunehmend verloren. Wir hören zwar immer mehr, aber immer weniger zu – und eher seltener gemeinsam. Doch ohne Gespräche und Austausch untereinander fühlen wir uns allein und unglücklich, selbst wenn wir ständig von Menschen umgeben sind. Nicht nur Hören, sondern richtiges Zuhören ist also Voraussetzung für ein soziales Miteinander – und offenbar auch für gesunde Hirnfunkionen. Der Neurobiologe Henning Scheich hat herausgefunden, dass die Hirnaktivität beim Hören sehr viel veränderlicher ist als beim Sehen. So beschäftigt ein und dasselbe Geräusch mal die linke, mal die rechte Gehirnhälfte, je nachdem, welche Gedanken wir damit verbinden. Denn Geräusche haben anders als Objekte nur Symbolcharakter und müssen erst interpretiert werden. Wir sammeln Erfahrungen, bilden Kategorien und entwickeln daraus eine Vorstellung von dem, was wir hören. Visuelle Informationen fordern und fördern unser Gehirn dagegen viel weniger: Wer fernsieht, braucht kaum Fantasie. Hören erzeugt Kino im Kopf. Und weil wir dabei die Bilder speichern, haben wir auch bestimmte klangliche Erwartungen und sind irritiert, wenn diese sich nicht erfüllen. Fällt eine Tür scheppernd ins Schloss, fühlen wir uns in der Wohnung dahinter nicht sicher. Ein Rasierer für Frauen sollte diskret leise sein, für Männer muss er die Bartstoppeln ordentlich sprazzeln lassen. Der Akustiker Friedrich Blutner, der Musikinstrumente baute, bevor er sich dem Sounddesign widmete, ist der Meinung, dass die bevorzugten Geräusche auch das Lebensgefühl einer Generation ausdrücken. Heute müssten Produkte krachen und knacken, damit wir sie gut finden: Leistung werde oft mit Lautstärke gleichgesetzt. Sollte sich unser Leben wieder mehr entspannen, werden wir wahrscheinlich weichere Geräusche schätzen.
Was beeinträchtigt den Sinn?
Wenn zu starke Schallwellen über die Härchen der Hörzellen hinwegbranden, können diese abbrechen oder -knicken. Solche Knalltraumen werden durch Lautstärken ab etwa 130 Dezibel verursacht, also durch Silvesterböller, aber auch Spielzeugpistolen. Die Schäden dabei sind endgültig, denn die Zellen des Innenohrs erneuern sich nicht. Auf Dauer zerstört bereits Schall unterhalb der Schmerzgrenze das Gehör, und zwar umso schneller, je lauter er ist. Oft merken wir davon zunächst nichts. «Diese kleinen Schäden summieren sich aber, bis irgendwann der Point of no Return überschritten ist», warnt Dr. Birgit Mazurek, Leiterin des Tinnituszentrums der Berliner Charité.
An Lärm gewöhnen sich weder unser Ohr noch unser Körper. Für ihn bedeutet Lärm Stress: Cortisol wird ausgeschüttet, und der Blutdruck steigt. In einer lauten Umwelt zu leben erhöht das Infarktrisiko von Frauen um mehr als das Dreifache, so eine Studie der Charité. Und nachts sind unsere Ohren noch empfindlicher: Einer Untersuchung des Robert-Koch-Instituts zufolge steigern schon nächtliche 55 Dezibel – dieser Wert wird auf vielen unserer Straßen erreicht – das Risiko von Bluthochdruck, erhöhten Blutfettwerten und Asthma-Erkrankungen.
Die Macht der Musik
Wie wir unser Gehör einsetzen können, um uns zu heilen
Sogar unser Gehirn singt unbewusst mit, wenn wir fröhliche Lieder hören. Verantwortlich dafür sind Spiegelneurone, die anspringen, egal, ob wir selbst etwas machen oder andere bei ihrem Tun beobachten. So sind bei Pianisten beim Hören von Klaviermusik die gleichen Hirnbereiche aktiv, als wenn sie selbst spielen würden. Und sogar bei Nichtmusikern reagieren Nervenzellen, die mit dem Kehlkopf in Verbindung stehen – und singen oder pfeifen lautlos mit. «Erst kommt die Musik, dann die Sprache», sagt Dr. Stefan Koelsch, Leiter der Forschungsgruppe Neurokognition der Musik am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Beim Hören von Musik sind also vor allem Bereiche des Gehirns aktiv, die wir nicht unter Kontrolle haben, und diese beeinflussen unser Nerven-, Hormon- und Immunsystem. Untersuchungen zeigen, dass Blutdruck, Puls und Atemfrequenz abnehmen, wenn wir ruhigen Klängen lauschen. Das funktioniert unabhängig davon, ob uns das Stück überhaupt gefällt. Aber Musik als Medizin kann noch viel mehr: Sie senkt zum Beispiel die Angst vor und während eines ärztlichen Eingriffs wie einer Magenspiegelung. Forscher der Universität Yale fanden heraus, dass Patienten sogar weniger Narkosemittel brauchen, dürfen sie ihre Lieblingsmusik hören. Und dies liegt tatsächlich an der Musik und nicht daran, dass sie OP-Geräusche übertönt. In anderen Studien konnte gezeigt werden, dass sich Menschen schneller erholen und weniger Schmerzmittel benötigen, wenn sie nach einer Operation mit Musik aufwachen. Sanfte Musik dämpft außerdem das Schmerzempfinden während der Wehen. Und Frühgeborene, die mehrmals täglich Schlaf- und Kinderlieder vorgespielt bekamen, nahmen schneller an Gewicht zu und konnten so früher von der Intensivstation entlassen werden. «Wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie genau Musik im Körper wirkt», erklärt Stefan Koelsch. «Doch in Zukunft wird Musik in der Medizin immer häufiger eingesetzt werden.» Musik heilt natürlich auch dann, wenn man sie aktiv einsetzt. Heidelberger Therapeuten konnten belegen, dass regelmäßiges Musizieren die Häufigkeit von Migräneanfällen bei Kindern sogar etwas effektiver reduziert als spezielle Medikamente. Bei Demenzkranken können Lieder vergessen geglaubte Erinnerungen und Wörter zurückbringen, Parkinson-Kranken hilft der Rhythmus, ihre Bewegungen zu koordinieren, und Schlaganfallpatienten finden oft über das Singen zurück zur Sprache.
Was, wenn der Sinn gestört ist?
Hörgeräte sind vielen peinlich. Dabei machen sie uns schlau
Mit rund 15 Millionen Betroffenen ist Schwerhörigkeit in Deutschland eine Volkskrankheit. Ein Grund dafür ist die höhere Lebenserwartung, ein anderer die permanente Lärmüberlastung. Die Zahl der Tinnitus-Patienten wächst ebenfalls, und ein akuter Hörsturz trifft immer häufiger auch junge Menschen.
Hörprobleme sollten möglichst frühzeitig behandelt werden. Denn wer längere Zeit schlecht hört, vergisst auch immer mehr Geräusche und muss sie mühsam neu lernen. Der Psychologe Siegfried Lehrl von der Universität Erlangen konnte nachweisen, dass sich Menschen in einem IQ-Test verbessern, sobald sie Hörgeräte bekommen – und ihre geistige Kapazität nicht mehr durch das akustische Verstehen absorbiert ist. Während Hörgeräte Schall verstärken, stimulieren Cochlea-Implantate (winzige Hörprothesen im Innenohr) über Elektroden direkt den Hörnerv. Voraussetzung für ihren Einsatz ist, dass dieser Nerv noch funktioniert: Das ist etwa bei Erwachsenen der Fall, die nach einem Hörsturz ertauben, oder bei vielen gehörlos geborenen Kindern.
Etwa zwei von tausend Neugeborenen sind von angeborenen Hörstörungen betroffen. Im Kindesalter ist es noch wichtiger, diese Störungen rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Denn für die Entwicklung des Gehörs und vor allem der Sprache gibt es sensible Phasen. Versäumtes kann manchmal kaum oder überhaupt nicht mehr aufgeholt werden.
So halten Sie Ihr Gehör fit
Die Funktion des Innenohrs können wir nicht steigern, sondern nur bewahren. Trainieren lässt sich aber die Hörverarbeitung im Gehirn. Dies ist oft Teil einer Therapie von Tinnitus und Hörsturz, lässt sich jedoch auch vorbeugend einsetzen. «Ein gut geschultes Gehör steckt kleine Schäden viel eher weg», sagt Dr. Gerhard Hesse, Chefarzt der Psychosomatischen Klinik in Bad Arolsen. Es lohnt sich also, sorgfältig auszuwählen, was wir uns zu Ohren kommen lassen – und dem Gehör ab und zu eine Pause zu verordnen: – SCHLIESSEN SIE DIE AUGEN und lauschen Sie dem Alltag. Etwa im Park oder im Bus. Was hören Sie? Und aus welcher Richtung kommen die Geräusche? – GENIESSEN SIE MUSIK. Akustisches Berieseln nutzt die Hörwahrnehmung im Gehirn eher ab, bewusstes Hinhören aber trainiert sie. Konzentrieren Sie sich dafür zum Beispiel einmal nur auf ein einziges Instrument. – GÖNNEN SIE IHREN OHREN RUHE. Wenn Sie besonderem Lärm ausgesetzt waren, braucht das Gehör Zeit, sich davon zu erholen. – SCHÜTZEN SIE IHR GEHÖR VOR KRACH. Taubheit und Ohrenklingeln nach einem Konzert sind erste Warnzeichen, selbst wenn sie am nächsten Morgen verschwunden sind. Ohrstöpsel etwa entlasten das Ohr: Sie dämpfen um 15 bis 30 Dezibel und lassen trotzdem noch genug Musikgenuss durch.
Tinnitus oder Hörsturz?
In Deutschland leiden rund drei Millionen Menschen unter Ohrgeräuschen. Dabei senden aufgequollene oder entzündete Hörzellen von selbst Signale ans Gehirn. Ein Tinnitus tritt oft nach Lärmüberlastung auf und kann durch eine Therapie mit Infusionen oder Medikamenten behandelt werden. Hält der Tinnitus jedoch länger als drei Monate an, hat diese Durchblutungsförderung keinen Sinn mehr: Die Tinnitus-Aktivität ist dann im Gehirn fixiert. «In der Therapie geht es nun darum, das Weghören zu lernen», erklärt Tinnitus-Expertin Dr. Birgit Mazurek, HNO-Ärztin an der Berliner Charite. Viele Betroffene leiden besonders unter den Geräuschen, weil sie ihre ganze Wahrnehmung darauf fokussieren. Wer hingegen plötzlich schlecht hört, leidet möglicherweise an einem Hörsturz und sollte spätestens am zweiten Tag zum Arzt gehen. Denn die Ursache ist oft eine Art Innenohr-Infarkt, und die Sinneszellen können absterben, wenn die Therapie nicht rechtzeitig beginnt. Ein Hörsturz kann verschiedene Ursachen haben, wie Birgit Mazurek erklärt: «Stress ist allerdings häufig eine Mitursache.»