Mit einem Hörgerät allein lässt sich die Hörfähigkeit nicht wiederherstellen. Die Branche setzt in der Behandlung von Hörverlust zunehmend auf eine ganzheitliche Betrachtung. Einen entscheidenden Beitrag kann offenbar ein Hörtraining leisten.
Von altersbedingtem Hörverlust (Presbyakusis) sind weltweit rund 1,2 Milliarden Menschen betroffen. Rund ein Drittel der über 65-Jährigen leidet unter dieser Erkrankung. Lediglich Karies und Kopfschmerzen geisseln noch mehr Menschen. Die Erfolge bei der Bekämpfung der drittgrössten chronischen Erkrankung sind jedoch ernüchternd: Trotz den beachtlichen technischen Fortschritten, die den Hörgeräteherstellern gelungen sind, ist die Zufriedenheit der Patienten mangelhaft. Die Akustik der immer kleiner werdenden Geräte wird zwar laufend besser, die individuellen Anpassungsmöglichkeiten vielfältiger, und der Bedienungskomfort nimmt zu. Trotzdem werden Hörgeräte laut Experten zu wenig oft getragen, und wenn, dann erst mit vielen Jahren Verspätung. Neben der allgemeinen Stigmatisierung von Hörhilfen ist die verbreitete Unzufriedenheit der Hörgeräteträger ein wesentlicher Grund dafür.
Diese Frustration hängt zum Teil aber auch mit überrissenen Erwartungen daran zusammen, was ein Hörgerät kann. An diesen ist die Hörgerätebranche nicht ganz unschuldig. Mittlerweile ist erkannt, dass die Benutzung eines Hörgeräts allein nicht ausreicht, um einen Hörverlust gänzlich zu korrigieren. Die Hörgeräte haben in den vergangenen Jahrzehnten ihre Leistungsfähigkeit zwar deutlich verbessert und tragen dazu bei, den altersbedingten Schaden im Innenohr auszugleichen. «Dennoch können sie ein gesundes Ohr nicht vollständig ersetzen», sagt Stefan Launer, der beim Stäfner Hersteller Sonova den Bereich Wissenschaft und Technologie leitet.
Holistische Betrachtungsweise
Schon seit Jahren befasst sich der Forschungschef beim weltgrössten Hörgerätehersteller mit den Funktionsweisen des menschlichen Gehörs. Früher habe man sich eher auf die akustische Wahrnehmung und den Verschleiss des Innenohrs konzentriert, erzählt er. Nun werde das Thema in einem breiteren Kontext betrachtet. Launer spricht von einem holistischen Ansatz, einem «Forschungstrichter». Denn es sei erwiesen, dass eine Beeinträchtigung des Gehörs nicht nur vielfältige Ursachen habe, sondern auch ebenso zahlreiche Begleiterscheinungen mit sich bringe, die die gesamte Lebensqualität eines Menschen stark beeinträchtigten.
Hören ist ein kognitiver Prozess, der nicht nur im Ohr stattfindet. In Analogie zu einem Klavier sei das Innenohr bei einem Schwerhörigen verstimmt, die Musik werde quasi verzerrt, und es fehlten Noten, so beschreibt Launer die Situation aus Sicht des Betroffenen. Es sei, als ob jemand in einer fremden Sprache spreche, fügt er bei. Bei der Behandlung von Hörverlusten geht es aus diesem Grund nicht nur um ein besseres Hören, sondern auch um ein besseres Verstehen des Gehörten. Ein Hörgerät macht zuerst alles nur lauter. Nach jahrelanger Beeinträchtigung ist das für viele keine grosse Hilfe, sondern eher eine unangenehme Erfahrung und sorgt für Verwirrung. Wegen dieser Frustration werden die Geräte vielfach nur sporadisch getragen.
Schaltzentrale Hirn
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Die weitverbreitete These aber, dass die Mehrheit der Hörgeräte ungenutzt in Schubladen vermoderten, will Launer nicht unkommentiert stehenlassen. In einer Untersuchung mit 130 000 Patienten hätten sie herausgefunden, dass die Geräte bei 80% von ihnen täglich im Durchschnitt während neun Stunden in Gebrauch seien. Nur 2% hätten sie gar nicht oder weniger als eine Stunde pro Tag getragen. Und je moderner das Modell, desto häufiger sei es auch in Betrieb gewesen, lautet die für den Hersteller positive Erkenntnis der Untersuchung.
Viele Begleiterkrankungen
Beim Hören spielt sich viel im Gehirn ab. Allein schon der normale Alterungsprozess führt dazu, dass das Hirn Sprache immer schlechter verarbeiten kann. Bei einer Schwerhörigkeit wird der Hirnschwund aber beschleunigt, was sich auf viele weitere kognitive Fähigkeiten ungünstig auswirkt. Laut Launer ermüden schwerhörige Menschen schneller und haben deshalb mehr Mühe, sich zu konzentrieren. Eine neuere, von Sonova mitfinanzierte Studie der Universität Zürich («Dynamics of electrophysiology and morphology in older adults with age-related hearing loss») fand zudem heraus, dass unbehandelte Schwerhörigkeit bei älteren Menschen das Risiko sozialer Isolation deutlich erhöht.
Eine weitere Erkenntnis der Doktorarbeit von Nathalie Giroud, der Doktorandin für Neuropsychologie an der Universität Zürich, nämlich dass Hörgeräte für eine Rehabilitation von altersbedingtem Hörverlust notwendig seien, ist natürlich Musik in den Ohren eines Hörgeräteherstellers. Hingegen ist es erforderlich, dass die Geräte über zwölf Wochen und jeden Tag während zwölf Stunden getragen werden und zusätzlich intensives Sprachtraining betrieben wird. Wer schlecht hört, hat nicht nur Probleme, Konversationen zu folgen, sondern entmutigt auch sein Umfeld zur Kommunikation mit ihm, wenn ihm alles zwei- oder dreimal gesagt werden muss. Diese soziale Ausgrenzung verläuft fliessend und ist für die Betroffenen oft kaum wahrnehmbar. Dadurch wird das Gehirn eines Schwerhörigen noch weniger stimuliert und bleibt auditorisch weniger lang plastisch. Ähnlich einem zu wenig gebrauchten Muskel verkümmert ein weniger stimuliertes Gehirn mit der Zeit. Auch das Gehör kann also «rosten».
Nicht zu lange warten
Die wissenschaftliche Leiterin des auf Gehörtherapie spezialisierten Schweizer Jungunternehmens Koj, Aleksandra Kupferberg, bestätigt die mit dem Hörverlust verursachten kognitiven Störungen. Auch sie bestätigt, dass es bisher noch keinen eindeutigen kausalen Zusammenhang zwischen Hörverlust und dem Rückgang der kognitiven Fähigkeiten gebe. Blieben Hörprobleme indes unbehandelt, komme es öfter zu sozialer Isolation und etwa zur Beeinträchtigung der Lebensqualität von älteren Paaren. Zudem würden unbehandelte Personen häufiger Demenz entwickeln, wie Studien in den USA und Deutschland herausgefunden hätten.
Obwohl die Nützlichkeit von Hörtrainings also weitgehend anerkannt ist, fehlen stichhaltige Beweise dafür. Laut Sonova-Forschungschef Launer ist «kein messbarer, wissenschaftlicher Nutzen feststellbar». Vielleicht hätten sich ja nur die subjektive Wahrnehmung und die Zufriedenheit eines Patienten, der ein Hörtraining absolviert, verbessert, gibt er zu bedenken. Trotzdem ist auch er von der Nützlichkeit überzeugt: «Ein Training bringt immer etwas.» Bei hörgeschädigten Kindern und Patienten mit einer Innenohrprothese (Cochlea-Implantat) gehört ein Hörtraining immer dazu. In gewissen Ländern wie Norwegen würden die Kosten von Hörtrainings für alle Betroffenen von den Krankenkassen bezahlt, sagt Andreas Koj, Gründer und Chef des Instituts für Gehörtherapie, das in der Schweiz mittlerweile 16 Mitarbeiter an vier Standorten hat. Von den gängigen, kurzen Hörtests bei den Hörgeräteakustikern hält er nichts, ja sie seien sogar «verantwortungslos». Bei Koj dauere allein schon die erste Konsultation, bevor mit dem Hörtraining begonnen werde, rund eineinhalb Stunden, sagt der Jungunternehmer.
Bei Koj absolvieren generell jüngere und weniger stark beeinträchtigte Personen (Hörverlust von 20 bis 25%) an einem Lerncomputer zu Hause jeden Tag ein 30- bis 45-minütiges Programm, das effektive Situationen simuliert. Teil des therapeutischen Prozesses sind die kontinuierliche Anpassung sowie das Ausprobieren von mehreren Hörgeräten. Seit dem Start 2013 hätten gegen 5000 Patienten das Programm durchlaufen und kaum jemand habe es vorzeitig abgebrochen, erklärt Jan-Patric Schmid, der bei Koj für die Entwicklung der E-Learning-Software zuständig ist. Die aus den individuellen Trainings erworbenen Erkenntnisse würden in die Verbesserung der Testalgorithmen einfliessen, sagt er. Mittlerweile sei die Koj-Software bei der 52. Version angelangt.
Investition von 4500 bis 5000 Franken
Laut Andreas Koj entscheiden sich nach Abschluss des Trainings 80 bis 85% der Personen für den Kauf eines Hörgeräts. In der Schweiz bedeutet dies eine durchschnittliche Investition pro Paar von 4500 bis 5000 Fr. Die anderen würden abwarten, hätten bereits ein eigenes Gerät oder entschieden sich, lediglich das Hörtraining fortzuführen, das dann aber kostenpflichtig wird. Den grössten therapeutischen Erfolg hätten sie mit neuversorgten Patienten, erklärt Kupferberg. Dank wiederholtem Hörtraining könne das Hörvermögen während zweier bis dreier Jahre statisch gehalten werden, d. h., der üblicherweise progressiv verlaufende Hörverlust könne auf diese Weise aufgehalten werden, ist Kupferberg überzeugt. «Ein unterversorgtes Ohr verkümmert», sagt sie.
Geld verdient Koj ausser mit dem Verkauf von Hörgeräten mit den Serviceabos, die Wiederholungstrainings, Reparaturen und Beratung umfassen und meist über den Lebenszyklus eines Hörgeräts (üblicherweise fünf bis sechs Jahre) laufen. Offenbar floriert das Geschäft mit Hörtrainings: Die Eröffnung von zwei weiteren Standorten in Schweizer Städten sei geplant und für die computerbasierten Lernprogramme von Koj hätten Hörgeräte-Ketten ihr Interesse angemeldet, erzählt der Jungunternehmer. Nur gegen die Stigmatisierung der Hörgeräte hat der in Deutschland zum Hörakustik-Meister ausgebildete Andreas Koj auch noch kein Rezept gefunden: «Sie sind nicht sexy», meint er.