1. Frage: Herr Prof. Frühholz, wie merkt man, dass das Gehör geschädigt ist?
Professor Frühholz: «Wenn man sehr häufig mit «wie bitte?» oder «können Sie das bitte noch einmal wiederholen?» nachfragen muss, um einem Gespräch zu folgen, sollte man eine Hörschädigung in Betracht ziehen. Oder auch wenn man gesellschaftliche Veranstaltungen in Restaurants und Orten mit hohem Geräuschpegel als anstrengend empfindet. Aber es kann auch sein, dass das Gedächtnis nachlässt, dass man sich zum Beispiel Telefonnummern, Namen und Termine nicht mehr so gut merken kann, denn die Hörschädigung bindet viele kognitive Ressourcen.»
Dr. Alexandra Kupferberg
Als Neurobiologin und wissenschaftliche Leiterin des «KOJ hearing research center» ist es ihre Aufgabe und Passion die zentrale Verarbeitung des Gehirns und die Auswirkung von Hörminderung respektive Hörtraining wissenschaftlich zu untersuchen. Dabei stehen ihr in ihrem weiten Netzwerk geschätzte Kollegen wie u.a. Professor Dr. Frühholz von der Universität Zürich beratend zur Seite.
2. Frage: Viele Patienten mit Schwerhörigkeit leiden an Tinnitus. Gibt es da einen Zusammenhang?
Herr Frühholz: «Ja, manchmal macht sich eine Hörschädigung durch Ohrgeräusche wie Tinnitus bemerkbar. Man geht davon aus, dass dieses «Phantomgeräusch», also der Tinnitus, durch spontane Entladungen von Nervenzellen in der Hörrinde hervorgerufen wird, weil infolge der Schädigung der Haarsinneszellen weniger Impulse als bei einem Normalhörenden zum Gehirn gesendet werden. Um diese Annahmen wissenschaftlich zu testen, hat man eine kleine Studie durchgeführt. Wenn man gesunde Testpersonen 7 Tage lang einen Ohrstöpsel in einem Ohr tragen lässt, hören die meisten Personen nach Ablauf des Experiments Phantomgeräusche. Wenn man aber den Ohrstöpsel wieder entfernt, verschwinden die Geräusche innerhalb von wenigen Stunden wieder.»
3. Frage: Mittlerweile sind moderne Hörgeräte mit einem Computer im Ohr vergleichbar. Warum gibt es Ihrer Meinung nach dennoch so viele Hörgeräte-Verweigerer?
Herr Frühholz: «Das Tragen von Hörgeräten geht leider oft mit Vorurteilen einher, vor allem bei Männern. Hörgeräteträger befürchten, dass sie als alt, nicht besonders intelligent oder psychisch krank abgestempelt werden. Dabei sind moderne Hörgeräte klein, bequem und fast kaum zu sehen. Allerdings muss man auch sagen: Die winzigen technologischen Wunderwerke verstärken einfach nur akustische Signale. Aber die Hörbeeinträchtigung liegt nicht allein im Ohr: Neuere Studien legen nahe, dass die schwerhörigen Patienten Defizite der Sprachverarbeitung im Gehirn aufweisen. Je länger man wartet, desto stärker verlernt das Gehirn das Verstehen. Wenn man nicht rechtzeitig handelt, wird auch das modernste Hörgerät die Hörfähigkeit nicht sofort wiederherstellen können.»
Professor Dr. Sascha Frühholz
Leitung des Psychologischen Instituts «Kognitive und Affektive Neurowissenschaften» an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte in den auditorischen und affektiven Neurowissenschaften. Forschungsprojekte zu den kognitiven und neuronalen Mechanismen der Gesichts- und Stimmwahrnehmung, zur Stimmproduktion und zu emotionalen Prozessen.
4. Frage: Herr Frühholz, ab wann raten Sie dazu, sich ein Hörgerät zuzulegen?
Herr Frühholz: «Wenn Sie im alltäglichen Leben Einschränkungen durch Ihre Hörfähigkeit spüren, zum Beispiel, wenn Sie anfangen, sich aus Gesprächen zurückzuziehen, wenn Sie sich mit dem Sprachverstehen schwertun, sobald mehrere Personen gleichzeitig sprechen, oder wenn es Ihnen peinlich ist, immer nachzufragen, dann ist eine Grenze erreicht, wo Sie sich an einen Spezialisten wenden sollten. Ein kostenloser Hörtest bei einem Akustiker oder einem Ohrenarzt ist schnell gemacht und schafft Klarheit.»
5. Frage: Kann man allein anhand eines Hörtests sagen, ob man ein Hörgerät braucht?
Herr Frühholz: «Ich halte audiometrische Tests für nicht ausreichend, um das Ausmass der Schwerhörigkeit auf den Lebensalltag der Betroffenen zu erfassen. Ich bin der Meinung, dass man zusätzlich zu den objektiven Hörmessungen auch umfassende persönliche Befragungen (auch von Partnern, Pflegepersonen und Verwandten) durchführen sollte, um den psychosozialen Bedürfnissen der Patienten individuell gerecht zu werden und ihre Lebensqualität zu verbessern.»
6. Frage: Herr Frühholz, was kann man selbst tun, um sein Gehör fit zu halten?
Herr Frühholz: «Viele aktuelle Studien zeigen, dass ein regelmässiges computerbasiertes Training das Sprachverstehen vor allem bei Nebengeräuschen verbessert. Selbst nach zwölf Monaten waren die positiven Effekte eines multimodalen Trainings auf das Gedächtnis bei Personen im Alter von 65 bis 75 Jahren deutlich sichtbar. Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass Personen, die vor Kurzem ein neues Hörgerät erworben haben, von einem Hörtraining sogar mehr profitieren als erfahrene Hörgeräteträger. Das liegt daran, dass Hörtraining besonders gut dabei hilft, sich an das Hörgerät zu gewöhnen.»
7. Frage: Welche Art Training würden Sie empfehlen, um dem Hörverlust entgegenzuwirken?
Herr Frühholz: «Nach meiner Meinung ist es am effektivsten, wenn die Kommunikation in lebensnahen Situationen kombiniert mit Gedächtnis und Aufmerksamkeit trainiert wird, wenn also nicht nur Sprachbausteine wie Silben und Wörter geübt werden. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass der kombinierte Ansatz die Satzerkennung um bis zu 80 Prozent verbessert.»
8. Frage: Ist das Gehörtraining für jeden geeignet? Hat jedes Gehirn dasselbe Potenzial?
Herr Frühholz: «Aktuelle Erkenntnisse aus der Neurobiologie und der Neurowissenschaft zeigen, dass es höchstwahrscheinlich möglich ist, bis ins hohe Alter neue Vernetzungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn aufzubauen. Dieser Prozess heißt Neuroplastizität. Das heißt, dass theoretisch jeder fähig ist, Dinge zu lernen, die man ihm bislang nicht zugetraut hätte. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist, dass inzwischen die ersten Kinder mit Trisomie 21 ihre Matura gemacht haben.»
Vielen Dank für Ihre Zeit, Prof. Dr. Frühholz.
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Quelle: http://koj.dev10.econsor-programming.de/?na=v&nk=7-21d86856fe&id=15