Ein Bericht der NZZ.
Erste Anzeichen von Schwerhörigkeit werden oft verkannt. Daher entscheiden sich viele Menschen zu spät für ein Hörgerät. Doch je länger damit gewartet wird, desto mehr verlernt das Gehirn zu hören.
Eine Lesebrille ist aus dem Alltag vieler Menschen jenseits der 50 nicht wegzudenken. Ein Hörgerät aber – davor graut es vielen. Es wird als Zeichen von Gebrechlichkeit verstanden. Dabei nimmt das Hörvermögen bei den meisten Menschen mit dem Alter ab. Die Wahrscheinlichkeit, mit 70 an einer Altersschwerhörigkeit zu leiden, ist hoch – fast jeder Zweite ist betroffen. Forscher beginnen zu verstehen, wie sich das Gehör im Alter verändert.
Erste Anzeichen an der Cocktailparty
Wenn Kinder und Enkel am Familienfest durcheinanderreden, dann fällt dem Grossvater plötzlich das Zuhören schwer. Erste Anzeichen von Altersschwerhörigkeit zeigen sich oft unter derart erschwerten Bedingungen. Doch auch ein junges Gehör ist herausgefordert, wenn viele Leute gleichzeitig sprechen.
Beim Hören inmitten eines Gewirrs von Stimmen – von Wissenschaftern kurz «Cocktailparty-Situation» genannt – arbeitet Wahrnehmung und Aufmerksamkeit zusammen. Das Gehirn analysiert den individuellen Klang der einzelnen Stimmen und konzentriert sich dann auf eine davon. Denn jede Person spricht in einer anderen Tonlage und mit einer anderen Klangfarbe. Auch die Melodie und das Tempo der Sprache verwendet unser Gehirn, um gesprochene Sprache verstehen zu können. Zu diesen Sprecheigenheiten kommen die Lippenbewegungen und die Mimik einer Person, die es uns erlauben, zu verstehen, was jemand sagt – besonders, wenn einzelne Wörter von Lärm in der Umgebung überdeckt werden.
Zu Beginn merkt man wenig
Aufgrund dieser vielfältigen Informationen, die dem Sprachverstehen dienen, wird der Hörverlust zu Beginn nur wenig wahrgenommen. Sogar in der Cocktailparty-Situation kann das Gehör einen Hörverlust zu Beginn noch kompensieren. Man mag zwar nicht mehr genau erkennen, ob die Stimme scheppert oder warm klingt, denn die hohen Frequenzen, die im Klang mitschwingen und das sogenannte Timbre ausmachen, verschwinden. Doch das Gehör ist noch gut in der Lage, die Tonhöhe und damit die Sprachmelodie zu erkennen. So können Labortests, die die erschwerten Hörbedingungen einer Cocktailparty-Situation imitieren, zeigen: Ältere Menschen verstehen gesprochene Sprache besser, wenn sie mehr auf die Betonung der Worte achten.
Doch die Schwerhörigkeit nimmt mit dem Alter zu, und so gelingt das Hören unter erschwerten Bedingungen immer weniger gut. Gleichzeitig können auch Konzentration und Aufmerksamkeit nachlassen. Der natürliche Abbau dieser Fähigkeiten beeinträchtige das Sprachverstehen zusätzlich, sagt Hartmut Meister, Professor an der Universität zu Köln, der sich mit Hören im Alter beschäftigt. Wenn das Hören immer schwieriger wird, ziehen sich viele Menschen aus dem sozialen Leben zurück.
Die Ursache liegt im Innenohr
Die Ursache der Altersschwerhörigkeit ist meist im Innenohr zu finden. Denn dort werden Sinneseindrücke immer weniger präzise verarbeitet und ans zentrale Nervensystem weitergeleitet. Dies kann an normalen Alterungsprozessen liegen, aber auch an feinen Schädigungen der Sinneszellen – die meistens durch Lärmbelastung verursacht sind. Gerade die Sinneszellen, deren Aufgabe es ist, die Signale zu verstärken, werden durch laute Geräusche zerstört.
Wer im Laufe des Lebens häufiger grossem Lärm ausgesetzt war, der läuft daher Gefahr, im Alter weniger gut zu hören. Denn die Lärmschäden sammeln sich im Innenohr – über die gesamte Lebensspanne hinweg. Einmal verletzte Sinneszellen können nicht repariert werden.
Das Gehirn verlernt das Hören
Wenn die Hörschwäche offensichtlicher wird, so hat sich das Gehör bereits an die weniger facettenreiche akustische Umwelt gewöhnt. Über eine dieser Anpassungsmöglichkeiten berichteten Forscher kürzlich im «Journal of Neuroscience». Am Tiermodell wurde gemessen, welche Nervenimpulse aus dem Innenohr ins zentrale Nervensystem übertragen werden, wenn das Innenohr geschädigt ist. Tatsächlich begannen Neurone, die zuvor auf hohe Töne reagiert hatten, plötzlich auch bei tiefen Tönen ein Signal in die Hörbahn zu senden. Die Zellverbände des Gehörs passten sich damit an die klangärmere Umgebung an. (…)