Ein Artikel von Emil Wallimann, Zeitschrift LEBENDIG 04-2020.

Vor einigen Wochen bekam ich eine Anfrage, ob ich mal einen Fachartikel schreiben könnte betreffend Umgang als Dirigent mit Mitgliedern die weniger gut hören und ein Hörgerät haben. Leider, so muss ich wohl sagen, kann ich auch da aus eigener Erfahrung schreiben. Dazu aber später.

Hörminderung – ein schleichender Prozess

Etwas schlecht gehört zu haben, das ist jedem schon einmal passiert. Aber irgendwann fängt es an, sich zu häufen. Dein Partner/deine Partnerin sagt zum Beispiel: «Hörst du diese Grillen?» und du kannst sie beim besten Willen nicht hören. Zu Beginn lassen sich anspruchsvolle Situationen noch einigermassen kompensieren: Man erhöht die Lautstärke, fragt öfters nach und versucht sich zu konzentrieren, um dem Gespräch noch folgen zu können. Viele Betroffene merken selbst nicht, dass ihr Gehör nachgelassen hat. Erst nach durchschnittlich sieben Jahren macht sich eine Schädigung der Ohren durch Kommunikationsprobleme im Alltag so bemerkbar, dass Betroffene aus eigener Initiative reagieren. Zu spät, denn in dieser Zeit ist die komplexe Fähigkeit der Sprache, Wichtiges aufzunehmen und Unwichtiges zu ignorieren, zunehmend verloren gegangen. Durch diese Veränderung wird eine Person plötzlich zum einsamen Wolf. Sie sitzt zwar mitten in einer gemütlichen Runde, zieht sich aber zusehend mehr und mehr in sich zurück. Grund: Sie kann den Gesprächen nicht mehr folgen, sie versteht den Inhalt nicht mehr und irgendwann hängt sie ab.

Hören und Verstehen

Das Gehirn bietet das wahrscheinlich grösste Potenzial zur Reaktivierung der Hörverarbeitung. Genau an diesem Punkt setzt die medizinische KOJ®Gehörtherapie an, bei der Hirnverarbeitung.

Mit dem Hören meinen wir zunächst einmal die akustischen Vorgänge im «Ohr». Doch die Signale von dort müssen im Gehirn aufbereitet werden, damit aus Hören Verstehen – Hörverstehen – werden kann. Das Gehirn unterscheidet die wichtigen von den unwichtigen akustischen Informationen und filtert alles Unwichtige aus. Millionen Nervenzellen in unserem Gehirn entscheiden jede Sekunde, welche gehörten Informationen wir verarbeiten und welche wir ignorieren. Erst so verstehen wir einen bestimmten Gesprächspartner in einer Gruppe von Menschen oder in einem Café. Unsere Ohren sind das wichtigste Sinnesorgan, das wir haben und der grösste Lieferant von Informationen für unser Gehirn. Im Alltag hören wir mehr, als wir in der Summe sehen, riechen, schmecken und fühlen können. Genau diese Fähigkeit verlernen wir aber, wenn die dafür zuständigen Hirnregionen aufgrund einer Hörminderung weniger beansprucht werden.

Meine Situation

Nach einigen Jahren Berufsleben in einem lauten Handwerkerberuf (ohne Gehörschutz) und vielen Jahrzehnten mit unzähligen lauten bis sehr lauten Musikproben, hat sich mein Gehör schleichend und unmerklich verschlechtert. Erst durch Hinweise meiner Frau bemerkte ich, dass ich vieles nicht mehr verstand oder hören konnte. Öfters kam es auch vor, dass ich mich an öffentlichen Anlässen plötzlich aus dem Gespräch zurückzog und relativ teilnahmslos dabeisass. Das hatte wie oben beschrieben damit zu tun, dass ich eine Zeitlang mit grosser Konzentration noch mithalten konnte, aber irgendwann ging es einfach nicht mehr. An Sitzungen musste ich mir angewöhnen, möglichst einen zentralen Platz einzunehmen um alle anderen wirklich zu verstehen. Mehr und mehr bekam ich auch stimmliche Probleme, die mir absolut keinen Sinn machten. Erst nachdem ich meine Hörgeräte hatte merkte ich, dass ich jahrelang aufgrund des reduzierten Hörfähigkeit viel zu laut gesprochen hatte, was zudem ganz klar meiner Stimme schadete.

Welches Hörgerät

Sobald man sich der Problematik mal bewusst wird, muss man sich überlegen welches Hörgerät man möchte oder in welches Geschäft man gehen soll. Schnell habe ich gemerkt, dass grundsätzlich alle Hörgeräthersteller absolute High-Tech für die Ohren anbieten. Praktisch alle Hörgeräte sind heute über das Handy zu steuern und bieten so zusätzliche Vorteile. Meine Entscheidung wurde einzig durch eine Tatsache beeinflusst. Ich wählte letztendlich jene Firma, die zusätzlich zum Hörgerät auch ein Hörtraining anbietet.

Gehörtraining

Als ich das Geschäft zum ersten Mal mit meinen Hörgeräten verliess, kam das heitere Erwachen. Die schöne Stadt Luzern war nur noch eines: laut! Hörgeräte verbessern das Hören ganz entscheidend, denn diese dezenten technischen Wunderwerke gleichen die Hörminderung der Ohren aus. Plötzlich versteht man nicht nur die Person gegenüber sehr gut, sondern alles was man lieber nicht verstärkt hören möchte wird einem zu laut. An diesem besagten Tag hatte ich aber nicht nur meine Hörgeräte zum ersten Mal in den Ohren, nein ich hatte auch eine Tasche mit einem speziellen iPad mit dabei. Dieses sollte in den kommenden Wochen mein Trainingspartner werden.

Mit dem KOJ-Lerncomputer kann jeder Nutzer individuell nicht nur sein Gehör, sondern seine Kognition trainieren.

Dieses iPad ist mit vielen Lektionen der Hörschulung programmiert. Täglich absolvierte ich eine Lektion von 30 – 45 Minuten. Jedes Jahr kann ich dieses Training über einige Wochen wiederholen, was immer sehr hilfreich ist. Es ist, wie gesagt, nicht in erster Linie die Lautstärke das Problem, es sind die durch die Hörminderung nicht mehr verstanden Vokale und Konsonanten oder deren Verwechslung. So beinhaltete jede Lektion sämtliche Hörfähigkeiten: Unterscheiden von hohen und tiefen Tönen (welcher von vier Tönen war der höchste?), leisen und lauten Tönen (welcher war der lauteste oder leiseste Ton) kurzen und langen Tönen (welcher war der kürzeste oder längste Ton?) Weiter gab es viele Übungen mit Kunstwörtern, die anders aber doch sehr ähnlich klangen: ama, ana, ala, aga, awa etc. Auf dem Display musste das Gehörte angetippt werden. Durch diese Übungen wurde es auch möglich, das Hörgerät möglichst optimal einzustellen. Weiter gab es Zahlenfolgen, die in der korrekten Reihenfolge nachgetippt werden mussten. Meistens fanden die Übungen mit einem Hintergrundgeräusch statt, welches dem in einem Restaurant bei Hochbetrieb sehr nahekam. Ebenfalls gab es immer einen Abschnitt eines Hörbuches, natürlich auch mit Nebengeräusch. Hier mussten Aufgaben gemacht werden wie beispielsweise immer antippen, wenn das Wort «und» im Text vorkam. Am Ende einer jeden Übung wurde das «gehörte» Resultat angezeigt. Es war sehr erstaunlich, wie ich mich über die Wochen dabei steigern konnte. Genau im gleichen Ausmass gelang es mir, im Alltag mit den Hörgeräten besser klar zu kommen. Heute ist für mich klar was schon Dr. Alexandra Kupferberg, eine Neurowissenschaftlerin sagte: «Das Gehör ist trainierbar». Dieses neu erlernte fokussierte Hören ermöglicht einem wieder, sich auf die Worte seines Gesprächspartners zu konzentrieren und die Stimmen am hinteren Tisch auszuschalten. Früher war eine Delegiertenversammlung, ein Volksapéro oder ein Aufenthalt in der Festmeile ein Graus für mich. Auch heute kann das noch schwierig werden, aber in einem normalen Rahmen geht das wirklich sehr gut.

Umgang im Alltag

Wie oben erwähnt ist das Hörgerät über eine App auf dem Natel steuerbar. Ich selber habe da drei Einstellungen: Alltag – Musik hören – Musik machen. Bevor ich meine Jodelprobe beginne, schalte ich auf dem Handy auf «Musik machen» und los geht’s. Am Ende der Probe schalte ich wieder auf «Alltag» und alles wird ein wenig lauter und heller. Wenn ich in ein Konzert gehe, belasse ich es vorerst auf «Alltag». Wenn es mir dann zu laut oder zu grell wird, (je nach Formation und Musikstil) so nehme ich mein Handy und schalte auf «Musik hören».

Umgang mit Sängern mit Hörgerät

In unseren Chören haben wir viele Mitglieder mit einem Hörgerät oder solche die eines haben sollten. Wenn ein Sänger plötzlich zu laut singt, könnte dies ein Anzeichen eines Gehörverlustes sein. Hier lohnt es sich zuerst die Situation zu beobachten und vielleicht vorerst nur mit dem Präsidenten zu besprechen. Wenn sich die Vermutung langsam bestätigt, muss mit diesem Sänger das Gespräch gesucht werden. Mitglieder, die bereits ein Hörgerät haben brauchen in der Regel keine Sonderbehandlung. Wenn aber Unsicherheiten beim Singen festzustellen sind, lohnt sich auch hier die Sache mal anzusprechen. Vielleicht ist das Hörgerät falsch eingestellt oder es hat keine Einstellung für die musikalische Betätigung? So könnte man den Sänger ermutigen, dies mit der entsprechenden Ansprechperson mal anzuschauen und eine Lösung dafür zu suchen.

Was bleibt Ein geschädigtes Gehör kann sich nicht plötzlich erholen und genesen wie andere körperliche Beschwerden dies vielleicht können. Der Schaden bleibt und man muss damit leben können. Ein Hörgerät kann einfach den Alltag wieder erträglich und das Leben lebenswert machen.

Licht und Schatten

Wo es Schatten gibt muss es auch Licht geben. Demzufolge haben auch Hörgeräte ihre Vorteile. Durch die Verbindung mit dem Handy durch Bluetooth brauche ich weder Stöpsel in den Ohren noch riesige Kopfhörer. Ruft mich jemand auf dem Handy an, so läutet das direkt in meinen Ohren und ich kann jederzeit frei sprechen ohne das Telefon an meine Ohren zu halten. Das Hören von Hörbüchern, Radiosendungen und Musik ist immer und überall möglich ohne jemand dabei zu stören. Da ich auf dem Handy eine Klavier-App habe, kann ich auch jederzeit mit dem Handy anstimmen, denn niemand hört diesen Ton meines Natels ausser ich in meinen Ohren. Ja, es gibt bei allem immer auch eine positive Seite!

Ratschlag

Tragt Sorge zu eurem Gehör. Schützt eure Ohren bei lauten Tätigkeiten. Ein geschädigtes Gehör ist nicht mehr zu reparieren. Ein Hörgerät bringt zwar sehr viel und macht den Alltag wieder erträglich, aber es wird nie mehr so wie es einmal war.